»Er will nach Mailand«, sagte ich. Sie schüttelten den Kopf. Sie konnten nicht weiterhelfen. Dann sagte meine Frau: »Fahr ihn doch zu einem Chinarestaurant.«
Es gibt in Verona nur zwei oder drei Chinarestaurants. Ich bin kein Fan von chinesischem Essen. Ich fuhr ihn zum nächstgelegenen, einem grellbunten Lokal im Erdgeschoss eines formlosen Wohnblocks. Der Geschäftsführer war jung, schick gekleidet in einen hellgrauen Anzug, der dem des Neuankömmlings ähnelte, aber mit Verve getragen wurde. Augenblicklich wurde das ängstliche Gesicht meines jungen Mannes lebendig und wirkte erwachsen. Die beiden unterhielten sich sehr schnell in geschäftsmäßigem Tonfall. Sie sprachen die gleiche Sprache. Plötzlich zog der Restaurantbesitzer einen Hunderteuroschein aus der Tasche und gab ihn dem Mann.
Fahren Sie ihn zum Bahnhof, bat er mich, und setzen Sie ihn in einen Zug nach Mailand.
»Aber weiß er denn, wo er hin soll, wenn er dort ankommt?«
»Er soll dort im Bahnhof ein paar Leute treffen. Sie erwarten ihn. Wenn Sie ihn fahren, gebe ich Ihnen und Ihrer Familie als Gegenleistung ein Essen aus.«
Ich hatte keine Lust, chinesisch essen zu gehen, und der Bahnhof war zwanzig Autominuten entfernt. Trotzdem fuhr ich den Neuankömmling hin, stellte mich mit ihm am Fahrkartenschalter an, zahlte für eine Intercity-Fahrkarte nach Mailand, stempelte sie für ihn im Entwerter ab (ein Disput mit dem Schaffner hätte ihm gerade noch gefehlt) und brachte ihn auf den richtigen Bahnsteig. Ich frage mich, ob er wohl eine Ahnung hatte, wie viel der Hunderteuroschein wert war. Die Großzügigkeit des Restaurantbesitzers hatte mich überrascht, ja gedemütigt.
Als der Zug in den Bahnhof einfuhr, fing der Mann an, etwas in seiner Sprache zu sagen. Er lächelte jetzt über das ganze runde, leicht pockennarbige Gesicht. Er wirkte aufgeregt. Ich schüttelte den Kopf. Er stellte pantomimisch jemanden dar, der telefonierte und sich dann etwas aufschrieb. Ich schrieb ihm meine Telefonnummer auf. Er hat sich nie gemeldet. Anscheinend leben jede Menge Chinesen in den alten Tunneln unter dem Mailänder Hauptbahnhof. Alle beschweren sich: Diese Leute stehlen uns die Arbeit, die Kultur. Doch im Angesicht der Notlage eines einzelnen Immigranten ist es wesentlich wahrscheinlicher, dass die Italiener ihm helfen, statt die Polizei zu rufen und dafür zu sorgen, dass er zurückgeschickt wird. So reserviert die Italiener auch einer multikulturellen Gesellschaft gegenüberstehen mögen, die alte Antipathie gegen Regierung und Obrigkeit kommt dem illegalen Fremden immer wieder zugute.
ES IST SCHON KOMISCH: Ganz offensichtlich dreht sich ein Großteil des Lebens der neuen Immigranten in Italien um die Eisenbahn; man sieht indische Familien, die mit all ihrem Hab und Gut unterwegs sind, man sieht die Prostituierten und die Zuhälter in ihren bunten Hemden, man sieht Araber und Türken, die auf den Parkplätzen vor den Bahnhöfen Kebab-Buden aufmachen, aber nie sieht man einen Immigranten, der bei Trenitalia arbeitet.
Fährt man mit dem Auto am Fluss entlang, an der Etsch, um schnell zum Bahnhof zu kommen und den Zug der lebenden Toten noch zu erwischen, kommt man selbst um sechs Uhr morgens nicht umhin, die lange Schlange von schwarzen, braunen, gelben und ja, auch weißen Gesichtern zu bemerken, die sich vor einem hohen Eisentor gebildet hat. Dort ist die Questura, die Polizeihauptwache. Die Menschen sind Immigranten, die Aufenthaltsgenehmigungen beantragen wollen. Dank der Beinahe-Vollbeschäftigung brauchen die Veroneser Firmen die Immigranten, sie brauchen billige Arbeitskräfte. Aber warum müssen diese Leute hier so früh Schlange stehen, selbst an den kältesten Wintermorgen? Und warum sieht man sie nie als Busfahrer oder Fahrkartenkontrolleure wieder?
Die Antwort auf die erste Frage kann nur in der üblichen Gleichgültigkeit der gesamten italienischen Bürokratie gegenüber den Menschen liegen, denen sie angeblich dienen soll. Für öffentliche Behörden ist es ganz normal, dass sie nur an zwei, drei Tagen in der Woche für jeweils ein paar Stunden geöffnet haben. Man ist dort immer Bittsteller, niemals Kunde.
Dass die Immigranten nicht im Verkehrswesen arbeiten, liegt ganz einfach daran, dass man für alle Jobs im öffentlichen Dienst einen Schulabschluss nachweisen muss, il certificato scolastico . Selbstverständlich von einer italienischen Schule.
Wann immer man die Homogenität und scheinbare Würde einer Gesellschaft wie der italienischen bewundert, die sich einen Zusammenhalt und eine Identität bewahrt hat, die in England oder den US-amerikanischen Großstädten längst verloren gegangen ist, darf man nicht vergessen, dass sie sich solchen Ausschlussmechanismen wie der Sache mit dem Schulabschluss verdankt. Immigranten, die keine italienische Schule besucht haben, dürfen auch keinen italienischen Müll einsammeln, keine italienischen Busse fahren oder Fahrkarten für den Zug der lebenden Toten verkaufen. Die Gewerkschaften, sonst immer schnell zur Stelle, wenn es um Streik und Protest geht, scheint das nicht zu stören. Ich bin gespannt, was in den nächsten paar Jahren passieren wird, wenn die ersten Immigrantenkinder ihre Schulabschlüsse machen. Das wird ein großer Tag, wenn der erste schwarze capotreno versucht, mir ein Bußgeld aufzubrummen, weil ich meine Fahrkarte nicht entwertet habe.
DIE SCHIENEN UM UNS HERUM vervielfachen und kreuzen sich, wenn etwa anderthalb Kilometer vor der Einfahrt in den Bahnhof Milano Centrale die Bahnlinien aus allen Richtungen zusammenlaufen. Ein paar Minuten lang versucht der Zug so langsam zu fahren, wie es geht, ohne anzuhalten. Überall um uns herum sind Überführungen, schmutzige Spielplätze und Wohnhäuser. Überall Graffiti. » Evviva la figa! «, hat jemand geschrieben. Lang lebe die Möse.
Während der Zug in Lambrate einfährt, schläft die Prostituierte. Ich stecke mein Buch in meine Tasche. Diese letzten Augenblicke der Zugfahrt, wenn der Interregionale mal wieder an einem ganz normalen Tag meines Lebens knirschend zum Halt kommt, sind für mich mit einer außergewöhnlichen Anspannung verbunden. Die Welt scheint dann in der Schwebe zu sein; ein paar schreckliche Sekunden lang kann ich nicht umhin, ganz bewusst den Horror der Routine wahrzunehmen, der Tage und Jahre, die zu einer Vergangenheit zusammenfließen, die ebenso wirr und unstrukturiert ist wie diese Schienenlandschaft. Außer mir scheint sich niemand darüber Gedanken zu machen. Zwei Mädchen necken ein drittes wegen eines neuen Tattoos, einer kleinen Rose knapp über der nackten Hüfte. Sie berühren die Rose mit ihren manikürten Fingern. Das Fleisch ist fest und braun. »Lass mal sehen«, fordert die rote Krawatte, aber jetzt kommt der Zug mit einem Ruck zum Stehen, und alle drängen nach draußen. Nichts ist langsamer als der Interregionale auf den letzten anderthalb Kilometern bis Milano Centrale. Am besten nimmt man von Lambrate aus die U-Bahn.
∗ Alle Informationen im ersten Teil des Buches stammen aus dem Jahr 2005. Machen Sie sich auf Überraschungen im zweiten Teil gefasst, wo alles anders wird, damit vieles gleich bleiben kann.
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