Der Zug verlangsamt seine Fahrt, als wir uns Lambrate nähern, dem ersten Bahnhof des Mailänder U-Bahn-Netzes. Hier versammeln sich die Roma, auf dem Bahnsteig Richtung Süden, wo die Grüne Linie fährt. Sie belegen die Steinbank auf der Höhe des letzten Wagens, wenn der Zug hält. Es sind drei, vier dunkelhäutige Männer, ungewaschen und unrasiert, ein halbes Dutzend Frauen, eine oder zwei mit Babys auf dem Arm, und ein paar Teenager, Mädchen und Jungs. Die Jungs haben eine Geige oder ein Akkordeon bei sich. Oft tragen sie Nagellack, manchmal sogar Lippenstift. Die Mädchen haben meist ein Kleinkind im Schlepptau. Wenn die Züge anfahren, steigen immer ein, zwei Roma ein. Sie fangen beim letzten Wagen an und arbeiten sich vor, die Männer machen in ihren schmuddeligen Westen Musik, die Frauen in den langen Kleidern betteln und wiederholen dabei immer wieder mit hoher Stimme ihren trauervollen Singsang.
»SIGNORE E SIGNORI! SCUSATE IL DISTURBO! Ich bin eine arme Immigrantin aus Albanien mit vier hungrigen Kindern , ICH BIN OHNE WOHNUNG, OHNE ARBEIT, OHNE GELD, OHNE ESSEN UND OHNE TRINKEN, PER FAVORE, SIGNORI, PER FAVORE.
Das Wort senza , ohne, wird seltsam betont, fast gesungen, wie in einem Klagelied. SENZA CASA, SENZA SOLDI. Aber was diesen Frauen in Wirklichkeit fehlt, ist Überzeugung. Sie betteln gelangweilt, wie Zombies, so als würden sie gar nicht erwarten, dass ihnen irgendjemand glaubt. Dieses Jammern ist nötig, scheinen sie sagen zu wollen, aber nur insofern, als es Teil einer Geschichte ist, die es manchen Leuten erlaubt, sich von ihrem Bargeld zu trennen. Die Gebenden brauchen sich nicht einzubilden, dass die Empfänger die Wahrheit sagen.
Ebenso wenig überzeugend sind die Männer, wenn sie eine der wenigen Melodien anstimmen, die sie auf ihren ungestimmten Geigen spielen können. »Alla Turca«, massakriert. Ein kleiner Junge läuft schwankend mit einer Sammelmütze durch den Wagen. Er weiß genau, wie lange er vor jedem Fahrgast stehen bleiben muss, um das maximale Pathos zu erzeugen. Ich habe auch schon gesehen, wie der Junge selber die Geige spielte, ganz allein im Gewühl der Metro, wobei sein miserables Spiel immer wieder im Lärm des Zuges unterging. Dann geht er mit der Mütze herum. Gelegentlich steige ich an der ersten Station aus und setze mich in den nächsten Wagen, um dem Krach aus dem Weg zu gehen, aber die Roma holen mich unweigerlich im nächsten Bahnhof wieder ein, und dann muss ich mir ihre gruselige Performance noch einmal von vorne anhören. Dann lieber doch gleich ganz, dann habe ich es hinter mir. Normalerweise arbeiten sie sich durch die Grüne U-Bahn-Linie bis zum südlichen Ende, nehmen dann den Zug zurück und steigen in Lambrate aus, um Pause zu machen. Kaum haben sie mit dem Betteln aufgehört, werden sie fröhlich.
Manchmal sieht man dieselben Frauen und Männer auch in der Regionalbahn betteln. Sie kommen ins Abteil, legen irgendein wertloses Schmuckstück auf den Sitz neben einem und kehren kurz darauf zurück in der Hoffnung, dass man es kauft. Aber im Zug haben sie es mit harter Konkurrenz durch die letzte Welle von afrikanischen Immigranten zu tun, und ich habe den Eindruck, dass die Roma zumindest in der Gegend um Mailand die U-Bahn bevorzugen.
Im Bahnhof von Verona gibt es einen Teenager, einen Jungen, der in den Zug steigt und einem erzählt, er habe sein Portemonnaie verloren und brauche Geld, um nach Hause zu seinen Eltern nach Turin fahren zu können. Beim ersten Mal habe ich ihm etwas gegeben. Später, als ich ihn mal darauf hinwies, dass er innerhalb von sechs Monaten schon drei Mal versucht hatte, mir diese Geschichte zu verkaufen, und dass man ihm bei seinem Veroneser Akzent kaum abnahm, dass er in Turin lebte, wurde er richtig aggressiv, so als wäre es eine Zumutung zu verlangen, dass er sich jeden Tag etwas Neues ausdachte oder um Details kümmerte, die höchstens für einen Romanschriftsteller eine Rolle spielten.
Die indischen Immigranten verkaufen Rosen an den Ampeln um den Bahnhof herum. Abends, wenn man zurückfährt. Sie betteln nie, sondern bieten einem einen Strauß mit sechs oder sieben Rosen für 5 Euro an. Ein Schnäppchen. Manchmal nehme ich sie. Manchmal frage ich mich, ob es eine Verbindung zwischen diesem Blumenhandel und den Prostituierten gibt, die in der Nähe ihren Dienst tun. Kaufen manche Männer ihrem üblichen Mädchen eine Rose?
Die Chinesen verkaufen eine Auswahl von Billigschmuck und Kopien von Designerartikeln, die sie auf Laken und Teppichen am Eingang zur Metro in Milano Centrale ausbreiten. Manchmal begegnet man in diesen Tunneln bis zu zwanzig chinesischen Flohmarkthändlern, wenn man nach einem Tag an der Universität zum Bahnhof zurückeilt. Sie sitzen in der Hocke und unterhalten sich leise miteinander, allzeit bereit, blitzschnell ihre Waren mitsamt dem Teppich aufzuheben, sollte die Polizei es auf sie abgesehen haben. Innerhalb von Sekunden sind sie dann mitsamt ihrem Krimskrams verschwunden. Manchmal ist es schwer, sich zwischen den vielen Pendlern und den ganzen ausgebreiteten Decken einen Weg zu bahnen.
EINMAL, VOR ETWA ZWEI JAHREN, habe ich einem Chinesen dabei geholfen, sich dieser kleinen Gemeinschaft von Milano Centrale anzuschließen. Meine Frau und ich wollten gerade einen Spaziergang in unserem kleinen Dorf bei Verona machen, als wir einen Asiaten sahen, der sich auf der winzigen Piazza ängstlich umschaute. Er war der erste Immigrant, den wir je in Novaglie gesehen hatten. Er war groß, vielleicht Ende zwanzig, kräftig gebaut und eindeutig desorientiert. Er trug einen schicken grauen Anzug, der aussah, als sei er aus großer Höhe auf ihn heruntergefallen. Seine Schuhe waren zu groß. Er hatte keine Tasche bei sich. Als wir auf ihn zugingen, schaute er uns ängstlich an, unentschlossen, ob er etwas sagen sollte, dann drehte er sich um und ging eilig weg. Wir beobachteten, wie er an eine der Türen klopfte, die direkt auf die Straße hinausgingen. Dann an eine andere. Und noch eine. Die Leute taten so, als seien sie nicht zu Hause.
Als wir von unserem Spaziergang zurückkamen, trieb er sich immer noch auf der kleinen Piazza herum, die deprimierend amorph ist: nicht mehr als eine Bushaltestelle; ein paar Flaschen- und Papiercontainer neben einer niedrigen Fertigbauturnhalle. Die ein, zwei älteren, schöneren Häuser sind wie so oft in Italien hinter hohen Mauern und Zypressenhecken versteckt. Der Mann sah jetzt noch ängstlicher aus. Für einen Asiaten hatte er ziemlich dunkle Haut. Ich ging hin und sprach ihn an.
» Posso aiutare? «
Er verstand mich nicht.
» English? «, fragte ich. » Can I help? «
»Mi-la-no«, sagte er.
» Parlez-vous français? Deutsch? «
»Mi-la-no«, wiederholte er.
»Das hier ist nicht Mailand«, sagte ich. »Wir sind hundertsechzig Kilometer entfernt von Mailand.« Dann hatte ich eine Eingebung und sagte: » Char . You want char?« Mir war eingefallen, dass »Char«, ein Wort, das wir in Nordengland als Kinder für Tee benutzten, ursprünglich aus dem Chinesischen stammte.
Er nickte eifrig.
Wir fuhren den Mann in die Stadt. Er bewegte sich so, wie ich mich zweifellos auch bewegen würde, wenn ich plötzlich mit einem Turban auf dem Kopf oder in einem Kimono durch eine fremde Stadt laufen sollte. Im erstbesten Vorstadtlokal bestellte ich ihm einen Tee und einen Hamburger. Ich weiß noch, wie mir die geübte Art auffiel, mit der er das Zuckerpäckchen schüttelte, ehe er es aufriss. Es war die erste Geste, die er mit Leichtigkeit ausführte. Vielmehr die Zuckerpäckchen. Er hat mindestens vier genommen. Er aß seinen Hamburger, trank den ekligen Tee vollkommen wortlos und unternahm keinerlei Anstrengung herauszufinden, was ich wohl mit ihm vorhatte. Er vertraute voll und ganz auf meine guten Absichten.
Auf dieser Seite der Stadt gibt es ein kleines Kloster, das für seine Wohltätigkeit bekannt ist. »Gehen Sie nicht zur Polizei«, sagten die Mönche. Sie würde ihn sofort dahin zurückschicken, wo er hergekommen ist. Er war wahrscheinlich aus einem Lastwagen gestoßen worden, vermuteten sie, der von Kroatien nach Italien gefahren war. »Sie kommen mitten in der Nacht über die Grenze«, erklärte einer der Mönche, »fahren noch ein paar Stunden weiter und werfen ihre Passagiere dann einen nach dem anderen in den gottverlassensten Gegenden aus dem Wagen. Er ist wahrscheinlich ziemlich weit gelaufen.«
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