Ein Schild weist darauf hin, dass man am Fahrkartenschalter keine Auskünfte einholen soll, nur sein Ticket kaufen und basta, aber die Leute fragen trotzdem ganz ungeniert nach den detailliertesten Sachen. »Wie viel würde es kosten, im Nachtzug nach Lecce bei vier Reisenden von der zweiten zur ersten Klasse zu wechseln, wenn man die Familienermäßigung und den Preisnachlass für die über siebzigjährige Großmutter berücksichtigt?«
Die Verkäufer sind geduldig. Sie müssen keinen Zug erwischen. Vielleicht erteilen sie gern Auskünfte, stellen gern ihr Wissen und ihre Fachkundigkeit zur Schau. An der Stelle, wo die offizielle Schlange aus der Seilführung hinaustritt, kurz bevor man an der Reihe ist, stellt sich heraus, dass man den Schalter ganz links nicht sehen kann, weil er von einer Säule verdeckt wird, die (wegen der Weltmeisterschaft) mit einer glänzenden, schokoladenbraunen Marmorverkleidung umgeben ist. Dieser versteckte Schalter ist, wie ich bemerkt habe, fast immer offen, während die dem Ausgang der Warteschlange direkt gegenüberliegenden und deshalb gut sichtbaren Schalter meistens geschlossen sind. Wenn man nicht weiß, dass es den Schalter hinter der Säule gibt, geht man dort auch nicht hin. Und der dort sitzende Kartenverkäufer ruft einen nicht auf. Er hat keinen Knopf, den er drücken könnte, keine Lampe, um die Kunden auf sich aufmerksam zu machen. Trenitalia will uns schließlich nicht verwöhnen.
Am Schalter rechts von mir fragt jemand nach einer komplizierten Verbindung in eine Stadt in Ligurien. Die Leute in der Schlange ärgern sich. »Und in welchen Zügen kann ich mein Fahrrad mitnehmen?«, fragt der Mann. Ein zweiter furbo drängelt sich dreist vor, als der Schalter am Ausgang ganz kurz frei wird. Diesmal protestiert der Verkäufer, aber nur halbherzig. »Geht schnell bei mir«, sagt il furbo . »Ich verpasse sonst meinen Zug.«
Niemand brüllt los. Es entsteht nur ein leises, unterschwelliges Gegrummel, so als empfänden die, die sich ordnungsgemäß verhalten haben, eine grimmige Freude angesichts dieses erneuten Beweises, dass gutes Benehmen sich nicht auszahlt, dass man als braver Bürger zwangsläufig zum Märtyrer wird. Dies ist eine wichtige italienische Gefühlslage: Ich benehme mich gut, und deshalb muss ich leiden. Ich bin ein Märtyrer. Mi sto sacrificando. Dieses Grundgefühl kann zu gegebener Zeit auch einmal schlechtes Benehmen rechtfertigen.
Müssen diese Leute wirklich am Fahrkartenschalter so viele Auskünfte einholen? Nein. Überall hängen plakatgroße Fahrpläne, die alle Abfahrten von diesem Bahnhof auflisten. Darin sind die Italiener gut. Es gibt billige, umfassende und halbwegs verständliche landesweite Fahrpläne im Zeitungsladen des Bahnhofs. Darin stehen alle Züge, die in Norditalien in den nächsten sechs Monaten verkehren. Es gibt auch ein Informationszentrum. Aus irgendeinem Grund befindet sich das Informationszentrum am anderen Ende des Bahnhofs, etwa hundert Meter von den Fahrkartenschaltern entfernt – man muss einen langen, elegant gefliesten Flur entlanglaufen –, und die Fahrpläne hängen auch nicht in der Nähe der Fahrkartenschlange. Das scheint in allen Bahnhöfen Italiens so zu sein. Es ist seltsam. Man kann sich nicht über die Abfahrtszeiten informieren, während man am Schalter ansteht, obwohl das oft genau der Moment ist, in dem man sich gern darüber informieren würde. Natürlich eilt man zum Schalter, ohne vorher den Fahrplan zu studieren, denn man fürchtet, sonst noch länger warten zu müssen und seinen Zug zu verpassen, aber dann muss man sich am Schalter nach den Fahrzeiten erkundigen. An einem Schalter fängt die Fahrkartenverkäuferin gerade geduldig an, die Vor- und Nachteile eines komplizierten Werbeangebots zu erläutern. Über die Lautsprecheranlage werden die nächsten Zugabfahrten angesagt.
UM DIESER STRESSIGEN SITUATION zu begegnen, hat Trenitalia den SportelloVeloce, oder FastTicket-Schalter eingeführt. (Man könnte ganze Abhandlungen verfassen über diese Angewohnheit, eine Übersetzung anzubieten, die nicht wirklich eine Übersetzung, sondern vielmehr eine italienische Fantasievorstellung der Funktionsweise der englischen Sprache darstellt und sich, sozusagen als Werbemaßnahme, eher an ein italienisches Publikum richtet als an Englisch sprechende Durchreisende.) Es handelt sich dabei um einen Schalter, den man nur benutzen darf, wenn der Zug, den man nehmen möchte, innerhalb der nächsten fünfzehn Minuten abfährt. Vernünftigerweise wurde der SportelloVeloce an der Stelle eingerichtet, wo die Leute sich üblicherweise vordrängeln, um die Hauptschlange zwischen den rot-weißen Seilen und verchromten Pfosten zu umgehen.
Aber was ist, wenn mein Zug in einer halben Stunde fährt? Ich warte fünfzehn Minuten in der Schlange und stelle fest, dass es eng wird. Soll ich dann zum Schnellschalter wechseln, wo bereits vier Leute anstehen? Und wenn einer von ihnen Auskünfte einholen will? Oder wenn plötzlich alle beschließen, erst fünfzehn Minuten vor Abfahrt ihres Zuges einzutreffen und den Schnellschalter zu nutzen? Das wäre ein Problem, denn während von den regulären Schaltern immer mindestens zwei geöffnet sind, ist der Schnellschalter häufig geschlossen.
Oder was ist, wenn ich mich fünfundzwanzig Minuten vor Abfahrt meines Zuges am Schnellschalter anstelle, aber achtzehn Minuten vor Abfahrt an der Reihe bin? Wird der Verkäufer mich dann trotzdem bedienen? Vermutlich schon, aber er hätte das Recht, es nicht zu tun. Vor allem Immigranten werden oft genug abgewiesen. Nicht-Weiße, meine ich. Und manchmal auch Touristen. Ausländische Touristen. Muss ich mich dann wieder hinten anstellen? Kann ich mich drei Minuten lang mit ihm streiten, sodass er mir schließlich doch einen Fahrschein verkaufen muss? Es sei denn, für meinen Zug wird plötzlich eine halbstündige Verspätung durchgesagt. Was auch nicht gerade selten vorkommt. Oder, da eine normale Bahnfahrkarte zwei Monate gültig ist, was wäre, wenn ich behaupte, den Intercity nach Bozen nehmen zu wollen, der in fünf Minuten abfährt, obwohl ich ihn in Wirklichkeit erst in zwei Wochen nehmen will? Wird jemand überprüfen, ob ich tatsächlich heute in den Zug einsteige? Lauter offene Fragen. FastTicket hat den Fahrkartenkauf also nicht wirklich einfacher gemacht. Das sieht jedes Kind. Warum wurde der Schalter also eingeführt? Es wird Zeit, über das Image zu reden.
Die Verwendung des Englischen ist immer aufschlussreich. Die Leser werden schon bemerkt haben, dass heute nur noch die langsamen Züge italienische Namen tragen, der Interregionale, und der noch langsamere Regionale, der träge von einem Wasserloch zum nächsten kriecht. Diese Züge brauchen der Außenwelt, dem auswärtigen Geschäftsmann oder dem Touristen mit Kreditkarte, nicht angepriesen zu werden. Sie fahren mit alten, ratternden Waggons. Im Sommer wird man darin gebraten, im Winter friert man. Die Sitze sind schmal und hart, die Sauberkeit … nun, wenn man an der Toilette vorbeigeht, hält man am besten die Luft an. Aber sobald man anfängt, Zuschläge zu zahlen, befindet man sich im Bereich des Englischen, oder zumindest der internationalen Sprache. Die stolzen alten Kategorien Espresso, Rapido und Super-Rapido sind weitgehend verschwunden. Heute haben wir den Intercity, den Eurocity und den Eurostar.
Wir haben es hier mit einem ewigen italienischen Dilemma zu tun. Sind wir ein »Teil von Europa« oder nicht? Sind wir ein Teil der modernen Welt? Sind wir fortschrittlich, oder hinken wir hinterher? Und vor allem, meinen wir es ernst? Es wird allgemein angenommen, dass man in Italien die Dinge, vor allem die des öffentlichen Lebens, schludrig und schleppend handhabt und sich von Eigeninteresse und politischen Überlegungen leiten lässt; folglich ist eine enorme Anstrengung nötig, dem südländischen Temperament entgegenzuwirken und an die teutonische Pünktlichkeit und die anglo-französischen Hightech-Standards heranzukommen.
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