Als die Kabinettssitzung vertagt wurde, kamen die meisten Minister zu mir und sagten mir, wie begeistert sie von dem Vorschlag seien. Einige klopften mir auf den Rücken, andere umarmten mich, eine Ministerin versicherte, sie sei bewegt und inspiriert.
Fünf Monate später, nach meinem Rücktritt, kritisierte mich die Presse, weil ich ohne einen Plan B in harte Verhandlungen gegangen sei. Tagelang machten sich Politiker nicht nur der Opposition, sondern auch viele Syriza-Abgeordnete in den Medien über mich lustig, weil ich angeblich in die Höhle des Löwen marschiert sei, ohne einen Plan zu haben für den Fall, dass die Banken geschlossen würden. Ich wartete darauf, dass Alexis oder jemand anderes aus dem Kabinett aufstehen und die Sache klarstellen würde. Aber keiner tat das. In einer Telefonkonferenz unter der Leitung von David March vom Official Monetary and Financial Institutions Forum machte ich daher in meiner Antwort auf die Frage, was bei den Verhandlungen der griechischen Regierung mit der EU und dem IWF schiefgegangen war, meine Pläne für ein paralleles Zahlungssystem öffentlich.
Die Diskussion wurde vermeintlich nach der Chatham-House-Regel geführt: Danach dürfen Teilnehmer zitieren, was gesagt wurde, aber ohne den jeweiligen Sprecher zu identifizieren. Doch diese Regel wurde missachtet. Umgehend wurden Aufzeichnungen meiner gesamten Präsentation publik. Und sofort warfen mir dieselben Journalisten und Politiker, die mich lächerlich gemacht hatten, weil ich angeblich keinen Plan B hatte, das genaue Gegenteil vor: »Varourakis’ geheimer Grexitplan« war eine typische Schlagzeile, die suggerierte, ich hätte hinter dem Rücken von Alexis einen teuflischen Plan ausgeheckt, um Griechenland aus dem Euro zu führen. Rufe, mich anzuklagen und vor Gericht zu stellen, wurden lauter. Während ich diese Zeilen schreibe, schwebt tatsächlich eine Anklage wegen Hochverrats im griechischen Parlament über mir, weil ich angeblich Ministerpräsident Tsipras mit einer »Verschwörung« in den Rücken gefallen sei.
Es ist für mich eine Quelle des Stolzes und der Freude, dass glühende Anhänger der Troika in Griechenland jede Gelegenheit nutzen, um mich fertigzumachen. Ich betrachte ihre Angriffe als einen Orden, der mir dafür verliehen wurde, dass ich es gewagt hatte, ihre Forderungen in der Eurogruppe abzulehnen. Aber es erfüllt mich mit Traurigkeit, dass einstige Kabinettskollegen, Menschen, die zu mir kamen, um meinen Vorschlag für ein Zahlungssystem zu loben, entweder so tun, als hätten sie nie davon gehört, oder in solche Verleumdungen mit einstimmen.
Das Angebot traf mich vollkommen unerwartet. Gegen Mitternacht verlagerte sich die Diskussion in Alexis’ Wohnung von Abschreckung und parallelen Zahlungssystemen zur praktischen Politik. Alexis informierte mich, dass Neuwahlen sehr wahrscheinlich seien. Die Amtszeit der Regierung lief noch über zwei Jahre, aber es war zweifelhaft, ob sie den März 2015 überstehen würde, den Monat, in dem die fünfjährige Amtszeit des Präsidenten der Republik endete. Sofern es Ministerpräsident Samaras nicht gelang, rund um seinen Präsidentschaftskandidaten eine gestärkte parlamentarische Mehrheit zu mobilisieren, würde das Parlament automatisch aufgelöst, und Neuwahlen würden anberaumt werden. 7Und dann trug Alexis unter den wachsamen Augen von Dragasakis ganz beiläufig sein Angebot vor.
»Wenn wir gewinnen, und daran besteht kein Zweifel, möchten wir, dass du unser Finanzminister wirst.«
Während meiner Reise von Austin nach Athen hatte ich immer wieder die Worte vor mich hin gesagt, mit denen ich sein Angebot ablehnen würde – nur dass ich mit einem ganz anderen Angebot gerechnet hatte, dem des Chefunterhändlers unter Finanzminister Dragasakis. Aber nun schlug Alexis mir vor, die beiden Rollen zu vereinen und mir zu übertragen.
Um Zeit zu gewinnen und ehrlich verwirrt wandte ich mich an Dragasakis: »Aber ich dachte, du würdest das Finanzministerium übernehmen?«
Alexis schaltete sich ein: »Dragasakis wird als stellvertretender Ministerpräsident die drei Wirtschaftsressorts kontrollieren.« Damit meinte er das Finanzministerium, das Wirtschaftsministerium und ein neues Ministerium für Produktiven Wiederaufbau. 8
Das veränderte alles. Die vorgeschlagene Kabinettsstruktur war vernünftig. Der einzige Grund, Alexis’ Angebot jetzt abzulehnen, wären Zweifel an den wahren Absichten von ihm und Dragasakis, an ihrem Format und Charakter. Es wäre, gelinde gesagt, merkwürdig gewesen, derart fundamentale Bedenken direkt vorzubringen. Stattdessen sprach ich eine andere prinzipielle Frage an.
»Wie du weißt, habe ich erhebliche Vorbehalte gegen das Programm von Thessaloniki. Tatsächlich kann ich ihm kaum etwas abgewinnen, und da ihr es dem griechischen Volk als euer wirtschaftliches Versprechen präsentiert habt, sehe ich beim besten Willen nicht, wie ich als Finanzminister die Verantwortung für seine Umsetzung übernehmen könnte.«
Erwartungsgemäß schaltete sich Pappas an der Stelle ein und wiederholte, das Programm von Thessaloniki sei für mich nicht bindend. »Du bist nicht einmal Mitglied von Syriza.«
»Aber wird man nicht erwarten, dass ich als Finanzminister Mitglied werde?«
Alexis hatte die Antwort offensichtlich schon vorbereitet: »Nein, auf keinen Fall. Ich will nicht , dass du Mitglied von Syriza wirst. Du sollst unbelastet von den verworrenen kollektiven Entscheidungsprozessen in unserer Partei bleiben.«
In meinem Kopf schrillten mehrere Alarmglocken. Alexis’ Argument war vernünftig, barg aber enorme Risiken. Auf der einen Seite würde es mir wertvolle Freiheit verschaffen, wenn ich halbwegs unabhängig von Syriza agieren konnte, einer Partei, deren mehr als dünne wirtschaftspolitische Strategie ich seit Jahren kritisierte. Alexis konnte dann bei all meinen Entscheidungen, die der Parteilinie zuwiderliefen, auf die Tatsache verweisen, dass ich nicht an die Parteilinie gebunden war. Aber das konnte jederzeit als Vorwurf auf mich zurückfallen, und dann hätte ich die Partei gegen mich, deren Unterstützung ich im Kampf gegen die Troika und die griechische Oligarchie doch dringend brauchen würde. Auch diese Sorge konnte ich nicht mit ihnen teilen.
Der Druck, mich zu entscheiden, wuchs, doch ich musste sicher sein: Waren wir uns über Ziele und Mittel wirklich einig? Wenn nicht, wäre mein Leben herrlich unkompliziert geblieben.
»Schauen wir, ob wir uns über Grundlegendes einigen können, bevor wir über meine Rolle in einer Syriza-Regierung sprechen«, schlug ich vor.
Ich beabsichtigte, ihnen eine aktualisierte, feste, klar umrissene Version der Fünf-Punkte-Strategie vorzulegen, die ich Alexis 2012 präsentiert hatte und die dann so schmählich abgelehnt worden war. 9
Ganz oben auf der Agenda müsse eine echte Umschuldung stehen. 10Wir müssten darin übereinstimmen, dass dies das A und O einer Syriza-Regierung sein würde. Griechenland aus dem Schuldgefängnis herauszuholen sei sehr viel wichtiger, als Privatisierungen zu verhindern und andere Ziele auf der Agenda von Syriza. Sie stimmten zu.
Mit einer Umschuldung könnten wir endlich die Spirale aus Austerität und Deflation durchbrechen und einen kleinen Haushaltsüberschuss anstreben – ich nannte als Zielmarke höchstens 1,5 Prozent der Wirtschaftsleistung. Das würde massive Kürzungen bei der Mehrwertsteuer und der Körperschaftssteuer bedeuten, um den privaten Sektor umzustrukturieren.
»Warum sollten Unternehmen weniger bezahlen?«, protestierte Alexis.
Ich erklärte, dass meiner Ansicht nach der private Sektor insgesamt mehr Steuern zahlen sollte, dass sich das aber in einer Zeit, in der die Unternehmen praktisch keine Umsätze machten und die bankrotten Banken selbst profitablen Firmen keinen Kredit geben konnten, nur durch eine Senkung der Körperschaftssteuer erreichen ließ. Dragasakis meldete sich und sagte, er stimme mir zu. Offensichtlich wollte er Alexis und Pappas beruhigen.
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