Gleichzeitig stand ich vor einem moralischen Dilemma. Hatte ich das Recht , Alexis’ Angebot abzulehnen? Der künftige Ministerpräsident bot mir eine Gelegenheit, meinen Worten Taten folgen zu lassen: die Verhandlungsstrategie und das Reformprogramm umzusetzen, für die ich von der Seitenlinie aus immer plädiert hatte, seit Griechenland in diesem speziellen Gefängnis steckte. Sokrates hat gesagt, ein gutes Leben heiße, dass man auf dem Sterbebett nichts zu bereuen habe. Wie würde ich mich später, im Alter, fühlen, wenn ich an den Augenblick zurückdachte, in dem ich diese Gelegenheit ausgeschlagen hatte?
Wenn ich nur mit Danae darüber sprechen könnte , dachte ich. Aber da uns Tausende Kilometer trennten und nachdem wir so lange in Alexis’ Wohnung beraten hatten, musste nun eine Entscheidung fallen. Und so traf ich eine Entscheidung. Aber bevor ich zusagte, hatte ich eine letzte Bedingung: dass ich ins Parlament gewählt wurde. Ich war nicht bereit, ein weiterer Finanzminister ohne Abgeordnetenmandat zu werden wie Stournaras und sein Nachfolger. 11
»Aber Yanis, du hast noch nie bei einer Wahl kandidiert«, wandte Alexis ein. »Du hast nicht die Infrastruktur vor Ort, du lebst in Texas, und die Wahl wird bald stattfinden!«
Pappas schaltete sich mit einem Kompromissvorschlag ein: Ich könnte auf der Liste für einen der Parlamentssitze stehen, die der Parteiführer verteilt. 12Alexis schlug dann vor, mir weit unten auf der Liste einen »Ehrenplatz« zu geben. Damit würde ich keinen Parlamentssitz erringen, aber es wäre ein Signal, wie hoch ich bei Syriza geschätzt war.
Ich blieb hart. »Das reicht nicht. Entweder bekomme ich ein Direktmandat von den Wählern, ohne Einmischung der Führung, oder ich bin raus.« Es war keine Frage der Ehre. »Wenn ich Wolfgang Schäuble in der Eurogruppe gegenübertreten soll, einem erfahrenen Politiker, der seit Jahrzehnten die Unterstützung seines Volks besitzt, dann brauche ich Tausende von Wählerstimmen, die mich unterstützen. Ansonsten würde mir die nötige Legitimität fehlen.«
»Aber was passiert, wenn du nicht gewählt wirst?«, beharrte Alexis.
»Dann hat das Volk gesagt, dass es nicht von mir in der Eurogruppe vertreten werden will. Ganz einfach! Die Vorstellung, dass Technokraten im Namen der unwissenden Massen Wirtschaftsverträge aushandeln, ist aus meiner Sicht abstoßend und gehört in den Papierkorb.«
»In welchem Wahlkreis willst du antreten?«, fragte Dragasakis.
»Ich habe mein ganzes Leben im Großraum Athen gewählt, deshalb soll es der Großraum Athen sein.« Mir schien das auf der Hand zu liegen.
»Der Großraum Athen ist brutal, Yanis«, erwiderte Alexis. »Bist du sicher?«
»Ich bin sicher.«
Die meisten Wahlkreise in Griechenland wählen jeweils mehr als ein Mitglied des Parlaments. Der Großraum Athen ist der größte Wahlkreis im Land, mit mehr als 1,5 Millionen registrierten Wählern, die 44 Prozent der dreihundert Abgeordneten wählen. Ich war mir absolut bewusst, dass es auch der Wahlkreis von Pappas und Dragasakis war. 13
Pappas, der merkte, dass es mir ernst war, versicherte: »Er wird problemlos gewählt werden.« Damit beendete er die Diskussion, aber nicht mein Unbehagen.
Dass sie mich nicht als Mitglied von Syriza wollten, war einleuchtend. Beunruhigender war es, wenn sie meine Wahl ins Parlament ablehnten, weil es sehr dafür sprach, dass mein Nutzen für Alexis sich umgekehrt proportional zu meiner eigenen politischen Legitimität verhielt. Aber es konnte genauso gut sein, dass Alexis einfach besorgt war, ich könnte bei den Wählern nicht gut genug ankommen. Dieser Gedanke plus der Pakt, den wir soeben geschlossen hatten, machte es unmöglich, das Angebot abzulehnen, obwohl ich in einem Meer aus Zweifeln schwamm.
Auf dem Weg zur Tür sagte Alexis nachdenklich zu mir: »Du wirst ein Team zusammenstellen müssen für den Fall, dass sie uns aus der Eurozone werfen. Fang bald damit an.«
»Das mache ich, Alexis«, erwiderte ich. Das war die Geburtsstunde dessen, was als Plan X bekannt wurde – der nur aktiviert werden sollte, wenn und nachdem Berlin und die EZB ihren Plan Z aktivierten, um Griechenland über die Grexit-Klippe zu stoßen. 14»Aber eines sollst du wissen, Alexis«, fügte ich noch hinzu. »Der beste und einzige Weg, uns langfristig in der Eurozone zu behaupten, ist, unsere Gläubiger mit Zeichen der Mäßigung zu überschütten und ihnen gleichzeitig zu signalisieren, dass wir unerschütterlich entschlossen sind, unsere Abschreckungsstrategie zu aktivieren, sollten sie versuchen, uns zu zerschmettern.«
Alexis nickte zustimmend. Dragasakis, der sehr müde aussah, lächelte schwach und bat mich, ihn auf dem Laufenden zu halten. Ich versprach es.
Chronik eines angekündigten Hinterhalts
Nach jenem Tag spät im November 2014 legte die Zeit den Schnellgang ein. Danae und ich begannen sofort mit der Planung unseres Umzugs zurück nach Athen Ende Januar, rechtzeitig für einen möglichen Wahltermin im März. Doch Ministerpräsident Samaras hatte einen anderen Plan.
Am 8. Dezember kündigte er an, dass er die Präsidentschaftswahl vorziehen werde. Der erste – rein formale – Wahlgang sollte neun Tage später stattfinden, am 17. Dezember, der zweite, ebenfalls formale, Wahlgang am 22. Dezember und der dritte – entscheidende – am 27. Dezember. 15Als ich die Nachrichten hörte, dachte ich, er müsse einen Weg gefunden haben, um zwei weitere Jahre an der Regierung bleiben zu können. Warum sonst sollte er eine Wahl vorziehen, die seine Amtszeit um zwei ganze Monate verkürzen konnte?
Am nächsten Tag überprüfte ich meine Theorie. Am 9. Dezember beantragte der griechische Finanzminister bei der Eurogruppe eine Verlängerung der zweiten Rettungsvereinbarung, die am 31. Dezember 2014 auslaufen sollte, um zwei Monate. Warum nur zwei Monate, während die Troika doch eine Verlängerung um sechs Monate vorgeschlagen hatte? Wenn Samaras damit rechnete, weitere zwei Jahre im Amt zu bleiben, hätte er sicher mindestens sechs Monate haben wollen, bevor er dem Parlament einen dritten Rettungskredit vorlegte, den die Politik der Troika erforderlich machen würde. Warum verkürzte er die Zeit so sehr? Mir fiel nur eine Erklärung ein: Er verkürzte die Zeit nicht für sich, sondern für uns.
Ich rief aus Austin Pappas und Alexis an und erzählte ihnen, was ich vermutete. Samaras wusste, dass er sich nicht halten konnte, er hatte sich damit abgefunden, dass Ende Januar Wahlen stattfinden würden, die er verlieren würde, aber er rechnete damit, dass die Troika mit dem Auslaufen der Rettungsvereinbarung, nach der Verlängerung am 28. Februar 2015, die griechischen Banken schließen würde. Das wäre dann das Ende der gerade seit vier Wochen amtierenden Syriza-Regierung. Und damit wäre der Weg frei, dass eine technokratische Administration wie die von 2012 eine dritte Rettungsvereinbarung schließen und er selbst im Triumphzug in die Villa Maximos zurückkehren könnte. Unter uns bezeichneten wir das als Samaras’ Plan für ein »linkes Zwischenspiel«.
Zwei Entwicklungen bestätigten unsere Theorie. Erstens verbreiteten Samaras und seine Minister in Reaktion auf die Meinungsumfragen, die einen Sieg von Syriza voraussagten, dass am Morgen nach dem Sieg die Banken geschlossen würden. Damit rief die amtierende Regierung praktisch zu einem Bankensturm auf. Am 15. Dezember sagte Stournaras, bis Juni Samaras’ Finanzminister, inzwischen Leiter der Zentralbank des Landes, in einer offiziellen Rede folgenden Satz, der in der Geschichte der Zentralbanken einmalig ist:
Im Rahmen meiner Pflichten als Gouverneur der Bank von Griechenland und in meiner Eigenschaft als Mitglied des Rats der Europäischen Zentralbank muss ich feststellen, dass sich die Krise der letzten Tage zuspitzt, dass die Liquidität auf den Märkten rasch abnimmt und nicht nur das Risiko besteht, dass das kürzlich begonnene Wirtschaftswachstum wieder zurückgeht, sondern auch, dass die griechische Volkswirtschaft insgesamt irreparabel Schaden nimmt. 16
Читать дальше