Nicola hob in schlechter Nachahmung des Prinzipals eine Augenbraue, und ich wusste, dass ich richtig geraten hatte. Er sagte: „Der Herr wünschte, dass ich ihm einen wahrscheinlichen Grund für das Verschwinden seines persönlichen Vorrates nannte, und es war meine Pflicht zu gehorchen. Ich habe mich allerdings nicht schlecht über deinen Charakter oder über die Gewissheit deiner Schuld geäußert. Wie ich jedoch bereits gesagt habe, liegt es an deiner eigenen Unfähigkeit, wenn du das Vertrauen des Herrn verloren hast, und nicht an irgendeiner eingebildeten Konkurrenz meinerseits. Außerdem, während es dir gefällt, den Begriff ‚Diener‘ zu verunglimpfen, hat meine Familie seit Generationen voller Dankbarkeit den Herrschern von Egorian gedient, und ich bin nicht weniger stolz als mein Urgroßvater Orellius, der täglich die Stiefel und die Schwertscheide des großen Generals Fedele Elliendo polierte, mich den Bedürfnissen unseres geehrten Herrn und Meisters, Graf Varian Jeggare, anzunehmen.“
Ich wartete einen Moment, um zu sehen, ob Nicola sein Ziel aus den Augen verloren hatte oder sich bloß aufplusterte. Als er mich ansah, als erwarte er eine Antwort, klopfte ich ihm leicht auf den Arm und sagte: „Tja, Nicola, du hast mich erwischt.“
„Du verstehst also?“, fragte er zögernd.
„Voll und ganz“, antwortete ich und tätschelte ihm erneut den Arm.
„Ausgezeichnet“, sagte er. „Einen Moment lang fürchtete ich, du könntest die Beherrschung verlieren. Ich bin froh, dass wir diese Möglichkeit genutzt haben, uns auszusprechen. Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest, ich muss noch einige Dinge für die nächste Etappe der Reise des Herrn erstehen.“ Er zupfte am Revers seiner Jacke und wartete, ob ich ihm die Hand reichen würde. Was ich auch tat und ordentlich zudrückte, aber nicht so fest, dass es ihm die Tränen in die Augen trieb.
„Danke, Nicola. Ich bin froh, dass wir diesen kleinen Plausch halten konnten.“ Ich winkte und schlenderte davon – dieses Schlendern hatte ich für ebensolche Gelegenheiten eingeübt – und klopfte auf die fette Börse, die ich ihm gerade stibitzt hatte. Sehr bald würde es Nicola sein, der die Beherrschung verlor.
Abgesehen von dem Geschrei der Sklavenhändler oben auf ihren Gerüsten ist der auffälligste Unterschied zwischen den Märkten von Caliphas und Egorian der Geruch von Knoblauch. Wir Chelaxianer mögen das Zeug. Wir ertränken nur nicht alles darin, wie es diese Ustalaver tun. Vielleicht sollte ich mich langsam daran gewöhnen, „wir Ustalaver“ zu sagen, da die Hälfte meines Blutes, die nicht direkt aus der Hölle stammt, gänzlich varisisch ist, vielleicht gänzlich ustalavisch. Ich würde meine Mutter fragen, aber wir haben nicht viel geredet, seit sie mich verkauft hat.
Knoblauch ist, wie der vielzitierte Nebel, eines dieser Dinge, die jeder unten im Süden mit Ustalav in Verbindung bringt. Da die Bevölkerung größtenteils varisisch ist, erwartet man solch eine gewisse Würze zusammen mit den Armreifen und Schleiertänzen, aber langsam begann ich mich zu fragen, was zuerst da war: der Knoblauch oder der Vampir?
Der Prinzipal ist nicht humorlos, obwohl er bei denen, die ihn nur flüchtig kennen, diesen Eindruck erweckt. Als er mir erzählte, dass die Bewohner von Ustalav zu jeder Mahlzeit Knoblauch essen, um Vampire abzuhalten, war ich mir nicht sicher, ob er mich auf den Arm nahm. Ich meine, klar, eine der Kisten, die Nicola auf seiner Inventarliste stehen hatte, war voller silberner Klingen und Armbrustbolzen, dazu noch Phiolen mit heiligem Wasser, Bündel von Eisenhut, all dieser Kram. Das beunruhigte mich nicht, da ich bereits einige Male mit Werratten aneinandergeraten war, als ich damals bei der Bocksherde war. Ich wusste also, dass es eher Pragmatismus denn Aberglaube war.
Aber mal im Ernst: Knoblauch? Wenn dieses Zeug wirklich wirken würde, würden die Vampire nur einmal an den Mauern von Caliphas schnuppern und niemals zurückkommen. Andererseits ist das vielleicht der Beweis, dass das Zeug wirkt, denn die meisten Vampirgeschichten, die ich gehört habe, spielen sich in irgendwelchen abgelegenen Dörfern ab. Vielleicht ziehen die Vampire von Ustalav Schäfer und Milchmädchen als Kost vor.
Was mich betrifft, bin ich mit einem Laib dieses körnigen Schwarzbrots und einer Kelle Pilzeintopf glücklich. Als ich den großen Markt erreichte, auf dem ich zuvor ein halbes Dutzend Wachleute für unsere Reise ins Inland ausgesucht hatte, lenkte mich etwas von meinem knurrenden Magen ab. Ich folgte der Melodie, bevor ich begriff, was mich anzog.
Zunächst konnte ich das Lied nicht von einem halben Dutzend anderer Weisen unterscheiden, die sich im Marktgetöse vermischten. Es gab einige kleine Gruppen von Straßenmusikanten, darunter auch eine Frau mit Opernstimme, die der Prinzipal sicher genossen hätte, wenn er nicht noch ins Elfenland starren würde – zweifellos berieselten ihn die hiesigen Adligen mit hiesigen Angelegenheiten. Ich ließ eine Münze in einen Korb neben einem jungen Mädchen fallen, das mit einem Ausdruck auf sein Hackbrett einhämmerte, der eher dazu gedacht war, Fliegen zu zerquetschen. Ich hielt einen Moment inne, um einem Gnom mit Backenbart zuzusehen, der auf einer Hirtenflöte spielte und um einen trommelnden Bären herumhüpfte. Abgesehen von mir und meinem Brötchengeber, war er der erste Nichtmensch, den ich in Caliphas gesehen hatte.
Das Lied wurde lauter als ich mich einem gewundenen Sträßchen näherte, das mit gestreiften Zelten gesäumt war. An jedes war ein Schild angebracht, einige mit varisischen Worten versehen, andere mit Bildern von Kristallkugeln, Zauberstäben, Karten und Kelchen. Ich kapierte. Das hier war die Mystikergasse, und durch die Öffnungen in den Zelten erspähte ich Handleser, Kristallkugelgucker, Knochenwerfer und Teesatzleser. Die meisten von ihnen waren alte Frauen, eine oder zwei auch jünger und schöner. Einer war ein gebrechlicher alter Mann, der einen purpurnen Turban und ein Pfund Schminke in dem vergeblichen Versuch trug, einem Vudrani-Mystiker zu ähneln. Er formte stumm ein Wort und zeigte mit einer knorrigen Klaue auf mich, doch ich ging weiter.
Das Lied war jetzt nahe genug, dass ich einige Wörter verstehen konnte. Hinter der letzten Biegung der Mystikergasse fand ich eine Gruppe von Städtern, die um ein weiteres, spitz zulaufendes Zelt herumstanden und mit ihren Händen zum Takt des Liedes klatschten. Ich drängte mich nach vorn, um einen besseren Blick zu erhaschen.
Der Sänger war ein junger Mann mit einem langen, schwarzen Schnurrbart und einem kleinen Bärtchen gleich unterhalb der Lippe. Seine Haut, sichtbar unter einer bestickten Weste, war gebräunt. Sein klarer Tenor verband sich mit der Melodie von einer kreischenden Fidel, die von einem schlanken, alten Mann mit grauem Haar und identischer Gesichtsbehaarung gespielt wurde. Sie und die anderen Musiker spielten auf einem ringförmigen Haufen ausgetretener Teppiche, während die Übrigen aus ihrem Clan sich unter das Publikum mischten und jeden dazu ermutigten, den Refrain mitzusingen. In dem Moment, als ich sah, wie sie sich unter den Zuschauern bewegten, wusste ich, was sie waren: Sczarni.
Über die ganze Welt verstreut, sind diese besonderen Clans von umherziehenden Varisiern Diebe, Landstreicher, Betrüger, Banditen, Beutelschneider, Mörder, Schmuggler und Halunken aller Couleur, von durchschnittlichem Grau bis zu Blutrot. Genau die Menschen, die ich mag.
Der Sczarni sang davon, durch Kiefernwälder zu laufen, über grüne Hügel zu wandern, im Nebel seiner Heimat zu baden, so etwas in der Art. Auch wenn ich nur die Hälfte der Worte verstand, konnte ich doch feststellen, dass es sich um ein fröhliches Lied handelte. Auch die Zuschauer mochten es, und sie sangen beim Refrain mit und klatschten zum Takt der drei Kistentrommeln. Als das Lied zu Ende war, überhäuften die Städter den Teppichring mit roten und silbernen Münzen. Ich nahm eine aus Nicolas Börse und warf sie hin, und erst, nachdem sie das Licht eingefangen hatte, erkannte ich, dass es eine aus Gold war. Was solls. Es war ein gutes Lied.
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