Diese beiden Beispiele haben Ihnen hoffentlich deutlich gemacht: Wahrnehmung ist niemals umfassend und niemals objektiv. Immer ist das Bild, welches sie gerade sehen, die Folge von Vereinfachungen, Zusammenfassungen und Interpretationen. Und das alles geschieht, ohne dass Sie es überhaupt mitbekommen oder dass Sie es verhindern könnten.
5.2 Der Einfluss von Stress auf die Wahrnehmung
Es stimmt aber nicht nur, dass wir ständig ein subjektives Bild von der Realität haben. Außerdem haben verschiedene Umstände starke Auswirkungen auf unsere Wahrnehmung. Das fängt schon mit ganz einfachen Dingen an.
Wenn Sie z. B. gerade einen blauen VW-Golf kaufen wollen, stellen Sie plötzlich überrascht fest, wie viele davon über unsere Straßen fahren. Das war Ihnen vorher gar nicht aufgefallen. Schwangere Frauen sehen plötzlich überall um sich herum andere Schwangere usw. Der Grund für dieses Phänomen liegt darin, dass wir vor allem das sehen, was gerade für uns von Bedeutung ist.
Körperliche Faktoren wie Müdigkeit, Hunger oder Schmerzen beeinflussen ebenfalls unsere Wahrnehmung. Genauso verhält es sich mit der Einnahme von Alkohol und anderen Drogen (was ja häufig auch dabei beabsichtigt wird).
Oftmals spüren wir Veränderungen gar nicht bewusst. Wir können uns subjektiv ganz normal fühlen, doch objektiv hat sich schon etwas verändert. (Bekannt geworden ist dieses Phänomen zum Beispiel im Falle des Alkohols und seiner Wirkung auf unser Reaktionsvermögen im Straßenverkehr.)
Für den Sport spielt es eine große Rolle, wie sich Stress auf das, was wir sehen und hören, auswirkt. Im Sport werden wir immer wieder Stress erleben. Fast jedes Spiel spitzt sich gegen Ende zu, entweder weil man einen knappen Vorsprung verteidigt oder weil man zurückliegt und doch noch den Ausgleich erzielen will. Abstiegskampf und Aufstiegsduell bieten gleichermaßen Stress pur, gleichgültig, um welche Liga es sich handelt.
Grundlegend lässt sich folgende Aussage machen: Unter Stress verengt sich unsere Wahrnehmung. Wir nehmen einfach vieles nicht mehr bewusst wahr. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, Ihr Team würde in einem entscheidenden Spiel vom Gegner unter Druck gesetzt. Wahrscheinlich werden Ihre Spieler innerlich in Stress geraten.
Die Folge ist häufig, dass sich die Fehlerquote steigert. Die Ursache hierfür liegt darin, dass die Spieler weniger als sonst sehen. So nehmen sie nicht mehr den freien Mitspieler am Spielfeldrand wahr. Sie bemerken nicht, dass ein Gegner den Passweg zuläuft. Zudem verschlechtert sich die Entscheidungsfähigkeit. Die meisten Menschen neigen unter Stress dazu, Entscheidungen unüberlegter zu treffen. Das alles zusammen führt dann zu mehr Fehlpässen und anderen Spielfehlern.
DAS S-E-H!-MODELL FÜR STRESSSITUATIONEN
Was passiert in Stresssituationen?
Die Wahrnehmung verengt sich.
Die Entscheidungen werden entweder hektisch oder gehemmt getroffen.
Die Handlungen werden ungenauer oder zögerlicher.
Deshalb gilt:
Kopf hoch, Augen auf |
= Sehen |
Klare, ruhige Entscheidungen |
= Entscheiden |
Entschlossene Handlungen |
= Handeln |
Für Ihr Coaching bedeutet das, dass Ihre Sportler unter Stress vieles von dem, was Sie ihnen sagen, nicht mehr mitbekommen. In spannungsgeladenen Momenten sollten Sie diese Tatsache berücksichtigen, etwa indem Sie Ihr Coaching auf einige markante Signale beschränken. Ein mir bekannter Trainer hat das sehr gut gelöst. Er hat mit seiner Mannschaft Schlüsselkodes (Handzeichen und Schlagwörter) vereinbart, die gemeinsam im Training eingeübt wurden. Im Spiel, wenn es heiß hergeht und die Wahrnehmung nicht mehr so gut funktioniert, kann er somit die Spieler über diese einfachen Signale immer noch erreichen.
5.3 Das Bahnungsmodell des Gehirns
Nachdem Sie nun einiges über die Aufnahme von Informationen erfahren haben, stellt sich die Frage, wie diese Informationen in unserem Gehirn gespeichert werden. Dabei möchte ich mit Ihnen vor allem die Funktionsweise des Langzeitgedächtnisses betrachten. Stellen Sie sich das Gehirn als ein großes Netzwerk gespeicherter Informationen vor. Die einzelnen Daten bilden die Knotenpunkte, welche durch Leitungen miteinander verbunden sind. Immer, wenn zwei Informationen in Beziehung miteinander gesetzt werden, werden solche Leitungen geschaffen.
Stellen Sie sich zum Beispiel vor, Sie zeigen einem Fußballer und einem Hobbygärtner eine grüne Pappe. Wenn Sie die beiden fragen, was sie mit der Farbe verbinden, so wird der Fußballer vermutlich an den Rasen eines Fußballfeldes denken, während der Heimgärtner von den frischen Trieben seines Obstbaums sprechen könnte. Es zeigt sich: Ein und dasselbe löst bei zwei Menschen auf Grund ihres Erfahrungshorizonts verschiedene Assoziationen aus, weil sie im Gehirn unterschiedliche Bahnungen und Knotenpunkte besitzen.
Je öfter die Verbindungen zwischen den Informationen genutzt werden, desto tiefer graben sie sich ein. Es ist wie bei einem Trampelpfad. Je öfter sie den Trampelpfad nutzen, umso breiter und ausgetretener wird er. Wenn er oft genug genutzt wird, entwickelt er sich schließlich zu einem frei zugänglichen Weg. Im Gegensatz dazu aber wächst er zu, wenn Sie ihn jahrelang nicht benutzen. Damit wird auch klar, warum Sie so viele Sachen vergessen haben, welche Sie früher mühsam lernen mussten. Weil Sie seit vielen Jahren nichts mehr damit zu tun hatten. Die Bahnen zu den gespeicherten Informationen sind inzwischen „zugewachsen“. (Wenn ich alleine daran denke, was ich einmal in Mathematik über Integralrechnung gelernt habe, ohne es jemals wieder zu aktivieren. Oder all die qualvollen Lateinstunden ...)
Je mehr Verbindungen im Gehirn zu einer einzelnen Information bestehen, desto mehr Zugangsmöglichkeiten zu diesen Daten besitzen Sie. Damit wird es viel wahrscheinlicher, dass Sie sich an diese Informationen erinnern können. Lernstrategien, so genannte Mnemotechniken, beruhen häufig genau auf dieser Erfahrung. Ein Beispiel ist der Trick, Informationen wie etwa den Einkaufszettel mit einem Rundgang durch Ihr Haus zu verbinden. Dabei verknüpfen Sie eine bildliche Repräsentation mit der reinen sprachlichen Information und haben somit statt einem jetzt zwei mögliche Zugänge.
(Sie wollen wissen, wie die Technik genau funktioniert? Nun, ganz einfach: Sie betreten die Wohnung und stellen sich z. B. die Dose Bohnen auf Ihrer Flurkommode vor. Links im Schlafzimmer liegt die Milch auf dem Bett. Vor dem Spiegel liegen die Bananen. Dann gehen Sie im Geiste weiter ins Badezimmer und sehen im Waschbecken die Leberwurst. In der Dusche steht eine Flasche Orangensaft. Schließlich im Wohnzimmer stellen Sie sich auf der Couch eine Tüte Vanillesaucenpulver vor, während der Couchtisch mit einer Packung Haferflocken geschmückt ist. Zuletzt entdecken Sie auf der Fensterbank neben der Blumenvase noch ein Glas Oliven. Wenn Sie sich diesen „Rundgang“ mehrmals eingeprägt haben, brauchen Sie ihn im Supermarkt nur noch einmal im Geiste abzuschreiten und schon fallen Ihnen alle benötigten Artikel wieder ein. Das Gleiche klappt übrigens auch mit Lernlisten für Prüfungen usw.)
Eindeutige Gesten unterstützen Ihre Botschaft und schaffen mehr Zugänge im Gehirn.
Foto: ©Picture Alliance/dpa
Das bedeutet zusammengefasst: Eine Information ist bei häufiger Nutzung in möglichst vielen verschiedenen Zusammenhängen viel leichter verfügbar. Als Trainer sollten Sie deshalb da-rauf achten, Ihren Spielern wichtige Informationen zum einen immer wieder zu präsentieren (Vertiefung der Bahnung) und zum anderen den Zusammenhang der Präsentation zu variieren (Schaffung zusätzlicher Bahnungen).
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