Die grundsätzlich wertvollen und sicher richtigen Bedingungen, die in der Pferdehaltung in der Theorie gut vertreten werden, müssen also der praktischen Prüfung unterzogen werden. Nicht alles, was prinzipiell gut ist, ist für jedes Pferd von Vorteil. Interessant daran ist, dass sowohl das Pferd mit langfristiger Überforderung als auch das Pferd mit langfristiger Unterforderung später oft sehr ähnliche, manchmal sogar gleiche psychische oder körperliche Fehlentwicklungen und Erkrankungen zeigt. Seit Langem sehe ich in meiner Pferdepraxis psychosomatische Abweichungen auf dem Vormarsch – Tendenz steigend. Rechtzeitig zu bemerken, wie es unserem Pferd in seinem Alltag überwiegend geht, ist demnach purer Gesundheitsschutz und kann viele Tierarztkosten sparen.
So manches Pferd leidet in unserer guten Haltung unter Monotonie, weil sein Tagesablauf so absolut einschätzbar wiederkehrend ritualisiert wurde – das ganze Jahr hindurch gleich. So etwas gibt es in der Natur nicht. In der Natur gibt es ein paar Grundsätze, denen das Pferd sich, ohne sie ändern zu können, fügen muss. Diese natürlichen Grundsätze geben dem Pferd eine Art Rhythmus vor und verbinden es mit der Natur. Das ist der Wechsel von Tag und Nacht, der Verlauf der sich langsam ändernden Jahreszeiten und das damit im Zusammenhang stehende Futterangebot. Die verändernde Energie einer Mondphase über einen Monat und die damit im Zusammenhang stehende hormonelle Regelung. Die Natur ist also ständig in einem langsamen, sanften Wandel, und eben dieser Wandel stellt das Pferd langsam, aber andauernd vor neue Herausforderungen und Anpassungen. Dadurch wird es nie langweilig und das Pferd ist je nach Konstitution, Erfahrung und Alter mehr oder weniger gefordert. Diese natürliche Herausforderung der Anpassung hält Pferde nicht nur gesund – sie macht sie auch stark und selbstbewusst. Ritualisiert lebende Pferde hingegen leiden allzu oft unter der Zwangsanpassung an das immer Gleiche. Intuitiv spüren sie, dass das nicht natürlich ist und sie nach und nach ihre natürlichen Anpassungsfähigkeiten damit einbüßen. Ihre Fähigkeiten, in der Natur instinktgestützt zu überleben, werden dadurch geschmälert. Daher schauen Sie bitte, ob Ihrem Pferd eine gewisse Monotonie und Wiederkehr von Alltagsgestaltung eher entgegenkommt, weil es vielleicht ohnehin gestresst ist und die Rituale braucht, um sich daran zu orientieren und sich geborgen und sicher zu fühlen. Oder ob Ihr Pferd an der entstehenden Monotonie leidet und glücklich wäre, einen etwas natürlicheren und damit lebhafteren Aktionsfluss zu erleben, um zu spüren, dass es lebt und sich an seinem Wohlbefinden und seinem natürlichen Wandel zu erfreuen. Die Anforderung an uns Pferdehalter ist in diesem Sinne, für das Pferd eine gute Mitte der Haltungsmodalitäten zu finden und dem Pferd Anpassung und Veränderung in dem Rahmen zu ermöglichen, wie es der Natur des Pferdes entspricht.
Für ein Pferd, das in natürlichen Abläufen lebt und sich damit auf artgerechte Weise auseinandersetzen kann und muss, ziehe ich daher von Grund auf andere Schlüsse für unsere gemeinsame Zeit und unsere gemeinsamen Ziele, als für ein Pferd, das ohnehin den ganzen Tag Kräfte sparen kann und sich vielleicht sogar langweilt.
Diese Beispiele haben Sie nun hoffentlich noch sensibler dafür gemacht, worauf Sie bei der Betrachtung Ihres Pferdes und seiner Lebenssituation achten können. Schauen Sie, was Ihrem Pferd in seinem Privatleben gerade wichtig ist und wie es ihm geht. Das kann von den Unruhen durch einen Neuzugang auf der Nachbarweide über eine veränderte Futtersituation oder einen hormonellen Umschwung durch länger werdende Frühlingstage alles sein, was es mit den Sinnen zu erfahren gibt. Eine Herausforderung für unsere Wahrnehmung! Je genauer und klarer wir sehen, in welcher Situation sich unser Pferd befindet, desto angemessener können wir auf unser Pferd eingehen. Das schützt nicht nur das Pferd vor Über- oder Unterforderung – sondern auch uns.
Ein Teil der Herde werden -
Die Methode der aktiven Beobachtung
Die zweite Methode, sein Pferd zu beobachten, ist die aktive Beobachtung. Das heißt, dass wir nun mehr in die Lebenssituation involviert sind und nicht mehr nur als betrachtender und wahrnehmender Gast am Zaun oder an der Box stehen. Um aktiv zu beobachten, können Sie sich gut und gerne mal eine Zeit auf den Platz gesellen, an dem Ihr Pferd sich heute befindet, mit ein paar Metern Abstand. Erleben Sie mit, was es alles zu erleben gibt – und reagieren sie mit. Werden Sie ein Teil der Herde und fühlen Sie sich hinein, wie es ist, genauso zu leben und seine Zeit zu verbringen. Sie werden staunen, wie viel Ihr Pferd zu tun hat! Beobachten Sie, wie intensiv die Beziehungen zwischen den Pferden sind. Jedes von ihnen hat seinen persönlichen Raum und reagiert ganz unterschiedlich, wenn sich ein Pferd seinem Dunstkreis nähert oder es wagt, ohne zu fragen dort einzudringen. Körpersprache wird schon über viele Meter wahr- und vor allem ernst genommen. Als Pferd ist man ständig auf Obacht!
Voll und ganz in die Lebenssituation und Stimmung des Pferdes einzutauchen ermöglicht eine noch direktere Wahrnehmung, wie es ihm heute geht und wovon es beeinflusst wird. Es ist der ehrliche Kontakt von Wesen zu Wesen.
Zwischen den Pferden können Sie wahrnehmen, ob es sich um eine bloß zusammengewürfelte Gruppe von Einzeltieren handelt oder ob Sie sich in einer echten Herdensituation befinden. Haben die einzelnen Pferde miteinander zu tun? Gibt es Aufgabenteilung und Freundschaften? Oder werden Sie als neues Herdenmitglied auf dem Platz plötzlich von allen belagert? Werden Sie angerempelt oder werden Ihre Taschen auf Leckerlis und Mitbringsel untersucht? Steht Ihnen plötzlich jemand auf dem Fuß oder schubst Sie um, weil es einem höheren Pferd im Rang Platz machen musste und so schnell nicht wusste, wohin? Würde es auf Ihrem Fuß landen, wenn SIE hier eine Position im oberen Rang hätten? Oder wenn es eine soziale Hemmung Ihnen gegenüber gäbe, weil Sie sich ein anderes Mal so eindrücklich bewiesen haben? So können Sie leicht feststellen, wie die allgemeine Meinung dieser Pferde über Menschen ist, wer in der Herde welche Aufgaben übernommen hat und wo Sie automatisch eingeordnet werden, wenn Sie sich so verhalten, wie Sie sich gerade verhalten.
Eine gute Methode, in der Herde Fuß zu fassen, ist das Spiegeln der Pferde. Nehmen Sie sich Zeit zu beobachten, womit die Pferde beschäftigt sind, und machen Sie mit. Sie können sich hinhocken und Gras rupfen, Sie können an der Heuraufe beschäftigt sein, Sie können der Herde folgen, wenn sie ein paar Meter geht. Spiegeln Sie das Verhalten und die Beschäftigung, die Ihnen auffallen, dann gehören Sie schnell dazu und werden ein Teil des Ganzen.
Die ebenbürtige Begegnung mit dem Pferd hat die größte Chance, wenn wir frei, offen und ehrlich zugeben, wer wir sind – und wer wir nicht sind. Irrtümer und Missverständnisse können so leicht vermieden werden.
Ich wähle diese Methode oft, um Pferde kennenzulernen und mir von Ihnen eine Art Alltagsanleitung geben zu lassen. Das schafft Verbundenheit und Vertrauen. Außerdem lerne ich viel über die Vorlieben und die heutige Stimmung meines Pferdes. Ich gehe mit ihnen gemeinsame Wege, ich ruhe mit ihnen in der Sonne, scharre im Sand, gähne ungeniert von Herzen zur Entspannung, nehme das Fellkraulangebot an und schaue mit meinem Pferd in die Ferne. Alles, was mein Pferd tut, mache ich mit. Alle Pferde, mit denen ich das in dieser Art praktiziert habe, reagierten darauf durchweg positiv. Sogar ein wild lebender Hengst auf einem Plateau auf Sardinien gestattete mir durch diese Art der Annäherung einen stundenlangen Aufenthalt in seiner Pferdeherde und schützte selbst mich als Herdenmitglied vor jungen Stutenräubern.
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