Ich bin überzeugt, all die grundlegenden und angeborenen Fähigkeiten des Menschen, natürlich und ursprünglich zu sein, sind gar nicht so weit weg – vielleicht bei jedem etwas unterschiedlich weit entfernt. Viele Menschen, die mir in den letzten Jahren begegneten, konnten sich selbst eingestehen, dass sie sich genau danach sehnen, was bei dieser tiefgründigen Begegnung mit dem Pferd manchmal wie von selbst entsteht. Sie alle haben die Sehnsucht nach einer wahren Begegnung und nach einer inneren Ruhe. Sie sehnen sich nach dem Loslassen von allem, was sie beschäftigt und tagein, tagaus auf Trab hält. Nach einem leeren Kopf, der überhaupt erst ermöglicht, dass ein anderes Wesen wie ein Pferd Raum bekommt. Nach Zeit. Nach der geruhsamen Gelassenheit, alles so zu nehmen, wie es ist.
„Anders? Wieso anders? Was mache ich denn nur anders?“
Genau aus diesem Beweggrund spüren viele den Wunsch, mit Pferden zusammen zu sein und in diesen tiefen, liebevollen Kontakt einzutauchen, der das Herz so erwärmt und uns dieses tiefe verstandene und geborgene Gefühl verleiht.
Nach einem Dutzend Jahren des Pferde-Mensch-Coachings glaube ich verstanden zu haben, dass viele vielleicht nicht genügend Raum, Zeit und Gelegenheiten zum Üben gehabt haben. Oder sie wurden belächelt, verhöhnt oder bezweifelt und kamen so einst von diesem natürlichen Weg ab. Hier und da wurde sicher von außen beeinflusst, mehr Wert auf die Leistung des Verstandes gelegt, und die Pflege der Sinne und Feinsinne nahm nach und nach einen immer weniger bedeutsamen Stellenwert ein. Für Dinge, die man weder sehen noch anfassen kann, wird meist in den ersten Kinderjahren viel Zuspruch und Anerkennung gezollt, doch später bekommen viele Heranwachsende dafür immer weniger Bestätigung.
Vielleicht hat auch nie jemand Glaubwürdiges in ihrem Leben deutlich und offen erwähnt, wie wichtig und bereichernd es für Pferde sein könnte, dass wir unsere angeborenen Möglichkeiten in dieser Art und Weise nutzen – allen voran unsere Sinne und allen damit verbundenen Fähigkeiten. Und welch ein großer Schatz in der Fähigkeit schlummert, zum Teil auch das Kind zu bleiben, das wir einmal waren: offen, begeistert, unvoreingenommen und rein. Mit der Fähigkeit, an Wunder zu glauben. Der Natur in uns ganz nah.
Ich empfinde es als mein großes Glück, dass ich als Kind aus reiner Liebe damit anfing, mich auf diese intensive Weise den Tieren und der Natur zu widmen. Und ich bin auch sehr glücklich darüber, dass ich nie damit aufhören musste. Ich möchte jeden Leser ermuntern, sich daran zu erinnern, dass er von Anfang an einen natürlichen Zugang zur Welt, zur Natur und all ihren Lebewesen hat und ihn sich zurückerobern kann, falls dieser Zugang etwas in den Hintergrund geraten ist.
Mit diesem Buch möchte ich Sie Schritt für Schritt in meine Sicht der Dinge einweihen und Ihnen die Gelegenheit geben, wieder so schön „anders“ zu sein. So natürlich anders, dass es für unsere Pferde Sinn macht – denn nicht nur Sie, im Besonderen auch die Pferde sollen etwas davon haben, dass dieses Buch geschrieben wurde!
Ich möchte Sie an den Einsichten und Erfahrungen der vielen Jahre, die ich mich bereits intensiv in der Pferdewelt bewege, teilhaben lassen und Ihnen zum Verständnis hier und da eine kleine Geschichte erzählen. Ich nehme Sie nun mit auf die Reise in die Tiefe – dorthin, wo sich Lebewesen begegnen und alle die gleiche Gültigkeit haben: die Reise in die Herzen.
Um Pferden zu begegnen und ihnen zuzuhören, bedarf es einer kleinen Vorbereitung. Wie oft sind wir in unserem Kopf nicht frei und mit unseren Gedanken woanders? Oder gehen davon aus, dass wir nur zu unserem Pferd gehen müssen, und dann läuft schon alles. Aus meiner Erfahrung kann ich sagen: Ja, tut es auch. Wenn Sie so zu Ihrem Pferd gehen, wie Sie es immer tun, werden Sie wahrscheinlich eine Erfahrung machen, wie Sie sie schon oft gemacht haben. Und daran gibt es nichts auszusetzen. Aber wenn wir unsere Pferde tiefer berühren möchten als nur an der Oberfläche, ist es ratsam, sich mit einigen grundsätzlichen Begebenheiten zu beschäftigen. Denn dann können wir mehr erreichen als die Oberfläche, die wir schon kennen und über die wir uns schon unsere Meinung gebildet haben.
Was bedeutet es nun, miteinander zusammen zu sein? Oder miteinander zu SEIN? Ist das ein Unterschied?
In der Theorie ist das recht einfach: Zwei Lebewesen treffen sich an einem Ort und begegnen sich. Dann sind sie schon mal zusammen. Das bedeutet aber nicht unbedingt, dass sie dann miteinander auch etwas zu tun haben. Das miteinander SEIN, das ich anstrebe, ist etwas mehr, als nur zur selben Zeit am selben Ort zu sein. Es ist etwas, das tiefer geht. Etwas Individuelles. Es geht darum, wer das Gegenüber ist und was es sich wünscht. Es geht um die Persönlichkeit – und nicht darum, was er oder sie tut. Es geht um das, was er oder sie IST. Das ist ein großer Unterschied, der sich vor allem in der inneren Welt zeigt. Von außen ist dieser Unterschied kaum zu sehen.
Doch wie geht das genau, dieses miteinander SEIN, wenn es dort mehr zu erfahren gäbe? Wenn das Pferd etwas zu sagen oder zu zeigen hätte? Wenn ich es erreichen könnte, dass das Pferd sich noch tiefer auf mich einlässt? Wenn aus unserer Begegnung tiefes Vertrauen entspränge? Verlässlichkeit. Freundschaft. Bindung.
Um dies wiederzuerlangen, müssen wir eine Basis schaffen. Eine Basis, auf der die Begegnung auf dieser tieferen Ebene überhaupt möglich wird: Wir müssen bei uns selbst anfangen. Es sollte uns gelingen, das Herz zu aktivieren und den Verstand zur Ruhe zu bewegen. Doch wie?
Allen voran geht der Wunsch und das wahre, liebevolle Interesse an unserem vierbeinigen Gegenüber. Manche Menschen sind sehr neugierig, wollen wissen, was denn haargenau im Leben des Pferdes bisher passiert ist, wollen das Pferd vielleicht kurzfristig ohne viel Arbeit und Mühe überreden, doch noch etwas mehr auf sie und ihre Menschenbedürfnisse einzugehen. Sie würden gern auf diesem Weg erreichen, dass die Pferde ihnen die Wünsche von den Lippen ablesen. Doch das ist nicht der Beweggrund, über den ich hier schreibe. Mit wahrem Interesse am Gegenüber ist gemeint, wie es dem Pferd wirklich geht. Heute. Ein echtes Interesse, das dem Herzen entspringt. Dabei ist es nicht mehr von Belang, wie es dem Pferd in der Vergangenheit ging – die ist vorbei. Und das Interesse gilt nicht der Zukunft – die ist noch nicht da. Heute heißt JETZT. In diesem Moment. Die Offenheit für diesen Moment des JETZT zu haben, ist für uns verstandesgeprägte Menschen eine große Aufgabe. Und vielleicht geraten einige bei der Anstrengung, ins JETZT zu kommen, mehr ins Schwitzen als bei einer Stunde Arbeit. Wer sich schon damit beschäftigt hat, weiß, dass es in allen Kulturen Methoden und Techniken gibt, wie man seinen Verstand beruhigt, seinen Körper in Einklang mit sich bringt und seinen Geist öffnet. Bei manchen Menschen gelingt es sehr schnell, andere wiederum müssen Stunde um Stunde üben. Haben Sie sich schon mal an die Pferdeweide gesetzt und beobachtet, wie lange Sie von Alltagsgedanken frei sein können?
Unser aller Alltag ist ein Konstrukt, mit dem wir mehr oder weniger gut organisiert sind. Mit all seinen Anforderungen und Reizen ist es oft sehr viel, was wir zu verarbeiten haben. Und auch mir in meiner Pferdeschule gelingt es nicht immer, den Kopf frei zu haben. Obwohl diese Arbeit das ist, was ich am meisten liebe und wonach ich mich immer gesehnt habe. Selbstverständlich gibt es auch im positivsten und selbst gewählten Alltag Dinge, die einfach getan werden wollen, und Anforderungen, die einen beschäftigen. Es muss nachbereitet werden, was gestern war, und für morgen habe ich allerhand vorzubereiten. Um dem Alltag nicht zu verfallen, habe ich mir einige Methoden angeeignet, um diesen Vorgang, im JETZT zu sein, zu üben – auch wenn es manchmal schwerfällt. Es ist wie eine tägliche Meditation, ein Klarwerden über das, was IST. Was wirklich ist – JETZT – nicht gestern – nicht morgen. Meine Einsicht in mein JETZT bedeutet, dass ich mir darüber klar werde, was in diesem Moment wirklich IST. Und das sind immer Erkenntnisse, die ich mit meinen Sinnen erfassen kann. Alles, was JETZT IST, kann ich riechen, schmecken, hören, sehen oder tasten. Alles, was mit den Sinnen erfasst werden kann, ist somit sinnvoll für mich. Mit Sinn gefüllt. Und wenn ich all meine Sinne zusammen wirken lasse, bekomme ich ein Bild von meiner Wirklichkeit. All das ist für mich wahr und real. Dann bin ich im JETZT angekommen.
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