Den Alltag hinter sich lassen
Stellen oder setzen Sie sich am besten vor der Begegnung mit Ihrem Pferd eine Weile an einen Ort, an dem Sie gut zu sich kommen können. Das kann drinnen oder draußen sein, noch zu Hause, auf der Arbeit oder schon beim Pferd. Machen Sie sich bewusst, was JETZT IST, und dadurch wissen Sie auch, was JETZT NICHT IST. Wenn Sie beginnen, auf diese Art und Weise Ihren Alltag abzuschütteln, nehmen Sie Ihre Gedankenfülle als Anregung und als Information über sich selbst mit. Dann wissen Sie schon mal, ob Sie heute innerlich eher ruhig oder eher aufgewühlt sind, ob Ihre eigene Konzentrationsspanne heute taugt, um mit Ihrem Pferd inhaltlich größere Themen anzusteuern, oder ob Sie klugerweise davon heute Abstand nehmen sollten, weil vielleicht SIE diejenige/derjenige sind, die/der sich nicht sammeln kann und vielleicht der Erholung bedarf. Sie wissen dann schon mal, was Sie selbst für Bedürfnisse haben, und haben den allerersten und wichtigsten Schritt schon hinter sich: Sie haben sich bemerkt und sich ernst genommen und Ihre Sinne können Sie nun nicht mehr so leicht trügen. Immer, wenn eine nicht zur Situation passende Emotion in Ihnen aufsteigt, wissen Sie von nun an: Das ist nur eine Erinnerung von gestern oder eine Sorge gegenüber morgen – und damit NICHT JETZT. Was haben Sie davon, dort tiefer einzusteigen? Nichts. Es bringt Sie nur aus dem JETZT. Es nimmt Ihnen die Offenheit für den Moment und nimmt Ihnen die Möglichkeit auf innere Freiheit, Erholung, Freude und Wunder. Wenn Sie dies verstanden haben, haben Sie die Basis hergestellt, um ungefärbt von Alltagsgeschichten Ihrem Pferd wahrhaftig begegnen und zuhören zu können.
Sich die Zeit und den Raum zu nehmen, im Hier und Jetzt anzukommen, schafft die Basis einer echten und freiwilligen Begegnung.
Dann bemerke ich manchmal, wie sich Gedanken in meinen Kopf hineinschummeln und Kreise ziehen. Schöne und auch nicht so schöne. Doch wenn ich versuche, meine Gedanken mit meinen Sinnen zu erfassen, dann scheitere ich, denn das sind ja eben nur Gedanken. Unsere Sinne können mit unseren Gedanken überhaupt nichts anfangen. Sie können sie nicht greifen und nicht begreifen. Ich vergleiche unsere Gedanken oft mit Seifenblasen, die ich als Kind zu fangen versuchte. Es ist schlichtweg unmöglich, und das Einzige, was bei dem Versuch immer größer wird, ist der Frust.
Bei meiner täglichen Übung versuche ich mich eine Weile an das zu halten, was wahrhaftig wahrnehmbar ist, und nutze meinen Körper dafür als Messinstrument. Das geht überall. Manchmal steigen Gedanken auf, die in meinem Körper einiges durcheinanderbringen. Dann wird mir plötzlich heiß oder kalt, ein Schauer läuft über den Rücken, irgendwo zwickt etwas oder Angst oder Wut steigen auf. Wenn Sie so etwas fühlen, können Sie sicher sein – Ihre Gedanken piesacken Sie gerade, um gesehen oder gehört zu werden. Aber mit JETZT und HIER hat das nichts zu tun! Die Gedanken, die Sie in eine Emotion lenken, sind nichts als alte Erinnerungen. Wirklich real ist nur, was Ihre Sinne berührt.
Ich möchte das entstandene Gefühl für die Situation nutzen, um auf einen Aspekt aufmerksam zu machen, der sich meines Erachtens gerade in der Reiterei oder im Zusammensein mit Pferden oft unbemerkt einschleicht. Wir Menschen bemerken es leider oft erst zu spät, wie wir auf unsere Pferde wirken. Bedauerlicherweise können wir das Pferd aufgrund seiner einfühlsamen, sensiblen und sehr feinsinnigen Art nicht nur positiv, sondern auch negativ mit unseren Stimmungen beeinflussen. Dies geschieht umso leichter, wenn uns das Pferd vertraut und es sich uns unvoreingenommen öffnet. Je mehr Vertrauen wir vonseiten unseres Pferdes entgegengebracht bekommen, umso größer ist daher unsere Verantwortung für die Gestaltung des Zusammenseins. Dabei geht es mehr um eine innere als um eine äußere Haltung.
Eine Unreflektiertheit des Menschen, der keine Vorbereitung für die Begegnung trifft und nicht im Hier und Jetzt ist, und damit über sich und seine Ausstrahlung unter Umständen bewusst gar nicht Bescheid weiß, ist für manches Pferd ein schwer lesbares und damit schwer einzuschätzendes Gegenüber. Sicher gelingt es vielen Menschen sehr gut, auf dem Weg von der Arbeit zum Stall abzuschalten, umzuschalten und sich auf ihr Pferd oder ihre Aufgaben im Stall zu freuen. Doch machen Sie sich bitte bewusst: Starke Gefühle, die nicht aus der unmittelbaren Situation entstehen, oder eine emotionale Überreaktion auf eine Situation Ihrerseits sind für Ihr Pferd nicht zuzuordnen. Es kann nicht erkennen, in welchem Kontext so manches, was Sie tun, steht. Es weiß nicht, was Sie noch vom Alltag mit sich herumtragen. Es kann nicht begreifen, aus welchem Anlass Sie vielleicht heute gehetzt, fahrig, unkonzentriert, gereizt, huschig, launisch, unfair, verunsichert oder gar zornig sind. Und vor allem versteht es auch nicht, dass es damit nichts zu tun hat. Mit seinen Sinnen kann es Sie riechen, hören, sehen, fühlen, eventuell sogar schmecken. Ihre Stimmung ist für Ihr Pferd real und liefert ihm ein konkretes Bild von Ihnen als sein momentanes Gegenüber. Heute. Jetzt. Wenn Sie noch den Alltag mit sich tragen, so gibt es für so manches Gefühl aus der Sicht des Pferdes keinen ersichtlichen Grund und somit tappt es im Dunkeln. Es sehnt sich fluchttierartig aus der Situation heraus und sucht einen Ausweg. Als Pferd hat es den Wunsch, sich wieder Sicherheit zu verschaffen. Bei emotionaler Überladung wirken Sie verunsichernd. Aus der Sicht des Pferdes sind Sie damit heute keine gute Partie und schon gar kein gutes Leittier, an das man sich halten sollte. Jedes Pferd hat den instinktiven Wunsch, frei und sicher zu sein. Auch frei von Werten, Beeinflussung, frei von Negativität. Freiheit bedeutet für das Pferd Harmonie und Gemeinschaft. Als Grundvoraussetzung dafür braucht es eine zuverlässige Familie. Gegenwärtig und erfassbar. Jetzt.
Unterschiedliche Pferde reagieren auf Stimmungen und Stimmungsschwankungen ihrer Persönlichkeit entsprechend sehr verschieden. Ursprungsinstinkt, Rang, Lebenserfahrung und Reife spielen dabei eine entscheidende Rolle. Wenn also Sie in einer Alltagsgeschichte feststecken, ziehen Sie Ihr Pferd unweigerlich mit hinein und forcieren eine für das Pferd natürliche Reaktion: Das Raubtier agiert – das Fluchttier reagiert. Bei positiven Gefühlen werden die Sinne des Pferdes in ihrer Grundschwingung angesprochen: Harmonie und Gemeinschaft. Diese Stimmungen und Gefühle stellen kein Problem dar und geben ein positives und vertrautes Grundgefühl einer Herde. Doch alle negativen Gefühle erfordern vom Fluchttier Pferd eine Reaktion. Schließlich erscheinen Sie plötzlich als nicht einschätzbares Gegenüber und landen damit unter Umständen in der Schublade „hungriges Raubtier“. Kein Wunder, dass das zu Missverständnissen führt. Ohne Vorbereitung und Reflexion, wie es uns selbst geht, erreichen wir allzu oft das Gegenteil von dem, wonach wir uns sehnen. Manche zerstören ihre Basis zum Pferd, für die sie sich wochenlang, manchmal jahrelang angestrengt haben, in nur einer einzigen raubtierischen Begegnung!
Ich selbst habe in meiner Laufbahn als Pferdefrau diese sehr menschliche Erfahrung mit verschiedenen Pferden machen müssen, weil ich noch zu der Zeit ihre Sensibilität und ihre Verbindung zu ihrem Ursprung, zu ihrer Natur unterschätzt habe, die Nähe zu ihrem Instinkt, der immer dann aufgerufen wird, wenn wir das Pferd verunsichern. Und ich hatte ihre Bedürftigkeit unterschätzt, einen tiefen inneren Frieden zu spüren, in dem sie sich sicher und geschützt fühlen. Und vor allem hatte ich in der Zeit geglaubt, die Früchte meiner Vertrauensarbeit wären mehr wert und stünden damit längst über den natürlichen Instinkten.
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