Auf unseren teilweise längeren Strecken Autofahrt erzählt Raji von seinem Familiendrama. Irgendwie scheinen wir sein Vertrauen zu erwecken. Harte Familienstrukturen, die keinen Raum lassen, einem inneren Gefühl nachzugehen, das würde den Ausschluss aus jeder Art von Gemeinschaft bedeuten. Er weint, während er fährt. Jakob sitzt neben ihm und ist einfach da. Ich bin still im Hintergrund.
Als ich nach Sri Lanka flog, schlecht vorbereitet, wie ich war, wusste ich nur von diesen aus Granit geschlagenen Buddhas und der Erfahrung Mertons mit ihnen. In dieser Begegnung erwachte im Mönch alles. Ungeahnt. Oder auch nicht – er wollte nicht wieder nach Hause kommen, ohne das großartige Anliegen vollbracht zu haben, schrieb er ja ins Tagebuch beim Abflug über den blauen Pazifik.
Ich bin nicht hier, um es Merton nachzuleben. Keinen Moment hatte ich diese Erwartung. Es war der Impuls, mich an diesem heiligen Ort in meine eigene, ureigenste Begegnung einzulassen.
Das Heiligtum liegt seit 800 Jahren in der Alten Stadt, der heute gesichtslosen Stadt Polonnaruwa. Einst voller Könige, Paläste, Tempel und Pagoden, blühend, zerstört, dann Hunderte von Jahren vom Dschungel überwachsen. Bis wieder Licht auf sie fiel und erstaunlich gut erhaltene Ruinen zum Vorschein kamen, teilweise wie unberührt vom Gram der Zeiten.
Ich wusste nicht, dass man weit laufen muss, um vom Eingang bis zum voll Spannung Erwarteten zu kommen. Raji fährt uns zum Haupteingang, zeigt uns die Stelle, wo er uns wieder erwartet, und leiht uns seinen Regenschirm. Der wird schnell nichts mehr nützen, denn der Weg zu Buddha ist weit. Bald sind die Pfützen so groß, dass ich meine Sandalen ausziehe und barfuß weiterlaufe. Auch wenn ich nicht jeden manchmal moosbewachsenen Tempel aus dunklem Mauerwerk, jede Stupa, jeden Königspalast mit Ornamenten voller Symbolik tiefer betrachte, dringt etwas der Größe dieses alten Geländes zu mir vor.
Eine Weile gehen wir zwischen Wiesen im grünen Licht des Regens, sind von einem Seerosenteich im Hintergrund, vom lichten Banyanbaum, von Oleandern und Rhododendren begleitet. Der sandige Weg neigt sich etwas nach unten und ein weiter, von Bäumen geschützter Platz eröffnet sich, Gal Vihara, der Felsentempel, aus einem einzigen Felsen herausgehauene vier Buddhas, seit ewigen Zeiten im Schutz der wenigen Bäume lebend. Das dazugehörige Kloster ist verschwunden. Die vier sind in hellem, fast ockerfarbenem Gestein aus dem großen Quarz-Felsen gemeißelt, sodass sie wirken, als wären sie nebeneinander in einer Höhle aufgereiht. Auf der gegenüberliegenden Seite des weiten Vorplatzes verläuft der dunkle Quarz wie ein Hügel in runden, abgeflachten Felssteinplatten.
Es hat aufgehört zu regnen, etwas zögernd kommt die Sonne durch, es sind nicht viele Menschen da, ich kann frei meinen Blick öffnen und barfuß den feuchten Sand unter meinen Füßen spüren. So ist es wohl angemessen – barfuß.
Auch Merton war im Dezember hier, auch bei ihm regnete es, auch er barfuß – zum Entsetzen eines ihn begleitenden Priors, der es sowieso als Blasphemie empfand, was Merton da machte, und bockig auf einem fernen Stein sitzen blieb.
Alles ist riesig und sanft hier, links, als erster, ein Sitzender, rechts von ihm ein kleinerer, vor dem ein schmaler Tisch mit Opfergaben steht, die die ihn verehrenden Einheimischen – die Knie beugend – ablegen und der Wärter mir in einem Englisch, das ich nicht verstehe, eine Information über eine Fußhaltung der Statue gibt. Weiter nach rechts der große Liegende, vierzehn Meter liegend und noch klein, direkt über seinem Scheitel ein weiterer. Lange hielt man den für Ananda, Buddhas Lieblingsschüler, aber die wissenden Forscher haben ihn des Namens beraubt und er blieb doch mit seinen verschränkten Armen ein Rätsel. Jung sieht er aus, ganz leicht.
Das Ganze überwältigt. Wie kann etwas so mächtig und so milde sein.
Bevor ich mich dem Liegenden zuwende, versenke ich mich in den Geist des Hüters zu Beginn. Ich tauche mit ihm ein in sein weites Land. Die Maserung, schräg über seinen Körper verlaufend, nur oben, über der Brust aufwärts, ist der Stein ruhig, sie vereint ihn mit dem hinter ihm liegenden Gestein der Höhle, mit den zarten Reliefs von Pagoden und Pflanzen. Es ist Stille selbst, meine nackten Füße verwurzeln sich tief in der Erde und sein Licht mich nach oben, wohin auch immer. Wie gibt es das – einen gemeißelten Bewusstseinszustand? Noch nie erlebt. Wie ist es möglich, dass ein Künstler das innere Wissen des Zeitlosen in die Form holt und mich gleich mitnimmt? Künstler auch, wegen der Vollkommenheit der Gestaltung, der Proportionen, der Einfügung in den Felsen, Einbeziehung der Maserung, nichts von der Härte des Gesteins bleibt im anmutigen Fluss der Gewänder. Er sitzt. Ich stehe. Seine Hände ruhen in seinem Schoß. Meine halten einen Regenschirm und ein Paar Schuhe. Unsere Begegnung ist ohne Ort.
Ich bin am Staunen. Nicht dem der äußeren Betrachtung. Dem Sein im blauen Staunen.
Der Boden unter meinen nackten Füßen lebt. Ich setze mich meditierend – wie viele der Einheimischen auch – auf den leicht hügeligen Granitfelsen dem großen, liegenden Buddha gegenüber. Das dunkle Gestein ist inzwischen fast warm und trocken, im Gegensatz zu meinem Kleid.
Er liegt auf seiner rechten Seite, die Maserungen der Gewänder ziehen sich wie ein großer, anmutiger Fluss über seinen Körper. Er lächelt nicht wirklich, es ist eher ein Lächeln, ohne zu lächeln, noch hinter den Lippen, jetzt auf jeden Fall, bei diesem Sonnenstand. Die Augen leicht wie zarte Flügel geschlossen, eine Hand unter dem Kopf, der auf einer Kissenrolle liegt, der andere Arm längs an seine linke Körperhälfte bis zur Hüfte geschmiegt. Die Füße parallel, der obere ein kleines Stückchen zurückversetzt.
Und öffne mein Herz für den großen Liegenden. Den großen Liebenden. Gerade, gerade in diesem einen Moment des Übergangs, bleibt sein kosmisches Lächeln aus übermenschlicher Liebe. Etwas in mir, du Großer, verweilt in dir. So sieht also der geheimnisvolle Bruchteil des Lebens aus, wenn die Seele diesen Körper verlässt. Ich betrachte dich dabei, übe es, eine Stunde, dann werden es zwei. Die Sonne schafft es nicht, mein Baumwollkleid zu trocknen. Aber ein bisschen noch lass mich bei dir sein, in deinem grenzenlosen Mitgefühl für alle Wesen, der unendlichen Weisheit des Siddharta, dem Allwissenden aus einem unendlichen Grund ALL-EINER LIEBE. Ich weine, und du, Erhabener, du lächelst. Alles Befreit-Sein ist offensichtlich, nichts Verborgenes mehr, alles tragender Frieden, in reinster Majestät und Schönheit.
Frierend sitze ich da und weine in diesen Frieden hinein. Oder aus ihm heraus, was weiß ich.
Ich komme langsam zurück in die Welt und denke an den wartenden Raji. Zwischen Jakob und mir genügt ein Blick. Wir sprechen nicht. Auf halber Höhe nach oben auf dem Rückweg drehe ich mich noch einmal um, und da sehe ich ihn, wie er da steht, mein Bruder Louis, so, wie er oft in der ersten Morgendämmerung vor seiner Einsiedelei stand, wie er da steht und dem Geist des Buddha lauscht, barfuß, so wie ich, so still, in eine innige Klarheit und Helligkeit gerissen. Offensichtlichkeit, Alles-ist-Leere, alles ist Mitleiden. Hier an diesem heiligen, nichtchristlichen Ort hat er erkannt, wonach er dunkel gesucht hat. Hat unter die Oberfläche geschaut, habe mich hindurchgebohrt, und ich bin durch Dunkelheit und Verborgenheit hindurchgelangt.
Es ist nichts zu sagen. Doch, ich bin dir zutiefst dankbar, Bruder Louis, für dein wildes, mystisches Leben und den Weg, den du vor mir gegangen bist, hierher und überallhin sonst.
Vor mir liegt eine Sonne, die sich langsam zum Abend hin senkt. Jakob und ich gehen schweigend, immer noch barfuß, mit einem zusammengeklappten Regenschirm in der Hand, den Weg zurück zu Raji, der schon wieder einen Schleichweg weiß, sodass wir nicht mehr die ganze Strecke laufen müssen.
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