Die grundsätzliche Anonymität des digitalen Raumes findet auch dort keine Grenzen, wo sich nachweislich Kinder im digitalen Raum bewegen. So werden so gut wie keine effektiven Personen- bzw. Altersidentifizierungssysteme für Programme bzw. Webseiten eingesetzt, die von Kindern genutzt werden oder könnten 461. Die Anonymität erscheint auf den ersten Blick auch durchaus für Kinder sinnvoll, da sie damit nicht klar als Kinder oder Jugendliche z. B. in Onlinespielen identifiziert werden können. Jedoch scheinen Minderjährige überwiegend dazu zu neigen, sich bei Pseudonymen Namen des gleichen Geschlechts und auch Avataren in Spielen dasselbe Geschlecht zu geben, was diesen Vorteil wieder teilweise negiert 462. So konnte im Rahmen einer Studie an Spielerinnen und Spielern des MMORPG World of Warcraft zu Genderswapping 463– also dem bewussten Tauschen seines Geschlechts nicht nur, aber insbesondere im Rahmen digitaler Aktivitäten, häufig verkörpert in digitalen Spielen durch die Auswahl eines Avatars des anderen Geschlechts – festgestellt werden, dass nur 20 Prozent der Spieler überhaupt Erfahrungen mit Genderswapping gemacht haben 464. Erfahrungen von Kindern in diesem Zusammenhang können im Umkehrschluss auch einen Einfluss auf die Risikoeinschätzungen zum Alter und Geschlecht des Chat- oder Spielpartners haben. Bei der genannten Studie wurde nicht nach Altersstrukturen unterschieden, sodass nicht gesagt werden kann, inwiefern Kinder und Jugendliche zu einem entsprechenden Verhalten neigen. Daneben enthalten Nutzernamen, gerade auch von Kindern und Jugendlichen, immer wieder Hinweise auf das Geburtsdatum bzw. Alter. Im Rahmen einer Analyse von 500.000 Nutzernamen von „League of Legends“ des Herstellers Riot Games konnte im Abgleich mit Angaben bei der Registrierung festgestellt werden, dass 11.630 Nutzer in der Alterskategorie 14–20 Jahre zutreffende Altershinweise in den Nutzernamen integriert hatten 465.
Ähnliche Zahlen finden sich auch in anderen digitalen Bereichen. Nach einer Studie des Branchenverbandes Bitkom sollen 25 Prozent der Nutzer von Dating-Apps wie Tinder oder Lavoo bereits falsche Angaben über ihr Geschlecht, Aussehen, aber auch über das Alter gemacht haben 466. In derselben Studie konnte herausgearbeitet werden, dass insbesondere die Altersgruppen von 14–29 467Jahren am ehrlichsten auftreten, wo nur 17 Prozent über die entsprechenden Punkte lügen 468. Die Quote der Falschangaben stieg kontinuierlich mit der Altersstruktur und 32 Prozent der 50- bis 64-jährigen Befragten gaben zu, falsche Angaben gemacht zu haben 469.
Einerseits ist es also für einen beachtlichen Anteil der Menschen im digitalen Raum durchaus akzeptabel bzw. normal, beispielsweise falsche Angaben über Aussehen, Gewicht, aber auch über kritischere Aspekte wie das eigene Geschlecht und Alter zu machen. Anscheinend neigen insbesondere jüngere Internetnutzer dazu relevante Informationen bereits durch die Wahl eines Nutzernamens (Alter und Geschlecht) und ggf. auch beispielsweise durch die Wahl eines Avatar-Geschlechts in der virtuellen Welt zu verbreiten 470. So können Nutzernamen wie „Lisa12“ oder „Peter2005“ besonders vulnerable Informationen über den jeweiligen Nutzer mitteilen.
Im Umkehrschluss kann allerdings kein Nutzer Sozialer Medien sich auch nur annähernd sicher sein, mit wem er in einer Interaktion tatsächlich kommuniziert. Hierfür würden effektive Personenidentifizierungssysteme benötigt, die solche spezifischen Daten im Rahmen einer Kommunikation verifizieren, um die vorherrschende Anonymität zu durchbrechen.
IV.5 Schlussfolgerung
Der digitale Raum in seiner jetzigen Form ist geprägt von der Nutzung Sozialer Medien. Jedes Soziale Medium, das keine effektive Kontrolle, bspw. in Form von Alters- und Personenidentifizierungsmechanismen, der nutzenden Personen vornimmt, kann auch von Cybergroomern genutzt werden, sofern Kommunikation möglich ist, um mit Kindern Kontakt aufzunehmen. Dabei hat sich gezeigt, dass sich die Mediennutzung von Minderjährigen in Deutschland auf Bilder- und Videoplattformen, Messenger und Onlinespiele konzentriert. Diese Mediengruppen sind nicht als gegenseitig exklusiv zu betrachten, vielmehr nutzen v. a. ältere Kinder alle Medien aktiv selbst. Nur weil ein Kind z. B. Onlinespiele spielt, heißt das nicht, dass es nicht auch einen Account auf Instagram unterhält. Dabei können die Bilder- und Videoangebote und Onlinespiele als Anbahnungsplattformen für Cybergrooming-Prozesse dienen. Hierbei zeigt sich, dass ein Cybergrooming-Prozess sich nicht auf ein Soziales Medium konzentrieren muss. So kann ein Täter in einem Onlinespiel den Kontakt mit einem Kind aufbauen und die Kommunikation dann im Laufe des Prozesses auf einen Messenger überführen. Auf diesen kann der Täter dann den digitalen Missbrauch in Form von Videolivestreams und der Übersendung von Bildern und Videos durchführen.
Anhand des Konzepts des digitalen Narzissmus wird ersichtlich, warum Täter offenbar relativ einfach über diese Medien Kontakt mit Kindern aufnehmen können. Die digitale Gesellschaft ist davon geprägt sich im Netz zu präsentieren. Diese Selbstdarstellung wird Kindern bereits frühzeitig vermittelt und kann einerseits zu einer vulnerablen und offenherzigen Darstellung führen, wie zu Musical.ly beschrieben. Andererseits lässt dies Kinder schneller auf Kontaktanfragen eingehen. Dies ist im Bereich der Onlinespiele etwas anders gelagert, da man sich hier nicht in Form von Selfies selbst präsentiert, auch wenn die Relevanz der Darstellung über einen eventuell vorhandenen Avatar nicht unterschätzt werden sollte. In Onlinespielen hat der Täter die Möglichkeit, durch das gemeinsame Spielerlebnis Vertrauen aufzubauen und entsprechend Kontakt mit dem Kind aufzunehmen. Bei allen Plattformen kommt der Aspekt der relativen Anonymität im Internet hinzu. Diese ist davon geprägt, dass einige Nutzer sich anonym bewegen und beispielsweise über ihre Identität täuschen. Andere tun dies gerade nicht, da sie für ihre Identität im Sinne des digitalen Narzissmus Rückmeldungen erhalten wollen. Diese Unsicherheit über die Identifizierbarkeit der Identität des Gegenübers scheint einerseits ein großer Risikofaktor für Kinder bei der Begegnung mit Cybergrooming zu sein. Andererseits greifen diese Faktoren nicht, wenn es sich nicht um Cybergrooming durch einen physisch unbekannten Täter, sondern um Gewalt durch Gleichaltrige handelt. Es erscheint daher notwendig, dass kriminalpolitische Strategien bei den unterschiedlichen Täterprofilen und Modi Operandi ansetzen müssen, um effektiv zu sein.
194 Hafner/Lyon 2008, Arpa Kadabra oder die Anfänge des Internets, S. 31.
195 Hafner/Lyon 2008, Arpa Kadabra oder die Anfänge des Internets, S. 31.
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199 Schmidt 2011, Das neue Netz, S. 13 ff.
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