IV.3 Digitaler Narzissmus als Risikofaktor für Cybergrooming
Eine Betrachtung von Cybergrooming muss sich auch damit auseinandersetzen, warum Minderjährige offenbar bereit sind sich im Internet selbst zu präsentieren, was Tätern die Möglichkeit der Kontaktaufnahme bietet. Ein möglicher Erklärungsansatz könnte im Konzept des digitalen Narzissmus liegen 410. Dabei ist der Grundgedanke, dass Kinder und Jugendliche in einem durch Interaktion und Kommunikation geprägten digitalen Raum aufwachsen. Schon bevor sie sich in diesen Raum selbst verorten und verankern können, wird ihnen durch Verwandte und Bekannte oft eine digitale Identität geschaffen 411. Die Nutzung Sozialer Medien ist dabei offensichtlich geprägt von einer Form der ‚Egomanie‘, die auch auf einer Form von Selbstbestätigung basiert, die sich aus Likes, Followerzahlen und Ähnlichem speist, dem ‚digitalen Narzissmus‘ 412. Marx und Rüdiger verstehen darunter, dass „[…] die Selbstpräsentation und die zumeist positiven Reaktionen zu Selbstbestätigung und Anerkennung führen […]“ 413. Der digitale Narzissmus scheint durchaus eine folgerichtige Entwicklung im Rahmen der Digitalisierung zu sein. So hatte Facebook mit FaceMash einen kurzlebigen Vorgänger. Dort wurden jeweils zwei Studentinnen mit ihren Bildern gegenübergestellt und die Nutzer konnten bestimmen welche attraktiver sei als die andere 414. Dabei griff FaceMash bereits relativ früh auf, dass es im digitalen Raum häufig um bildliche Eigen- und Fremdpräsentationen und entsprechende Bewertungen geht. Eine Konsequenz dieser Entwicklung ist u. a. das Phänomen, dass Kinder und Jugendliche von sich selbst Bilder erstellen und durch andere als „hot or not“ bewerten lassen, was Ansatzpunkte für Cybermobbing, aber auch Cybergrooming liefern konnte 415. Das psychische Konzept dahinter ist als „Impression Management“, also bewusste Strategien zur Selbstinszenierung und zur Kontrolle des Meinungsbildes über sich, bereits länger bekannt 416. Nicht jede Selbstdarstellung ist entsprechend strategisch geplant und sich der Risiken bewusst. Dies führt oft dazu, dass Menschen durch ein offensives Preisgeben ihrer persönlichen Privatsphäre im digitalen Raum, aber auch durch unterschiedliche Formen der Selbstpräsentation Anerkennung, Aufmerksamkeit und Zuspruch bekommen wollen 417. Dieser Zuspruch ist dabei nicht nur auf die eigene Peer-Group beschränkt, sondern kann auch darüber hinaus stattfinden. Dies kann ab einem gewissen Bekanntheitsgrad durch Formen des Zuspruches wie Aufruf- und Followerzahlen sowie „Likes“ u. ä. geäußert werden. Aber auch negative Reaktionen können eine entsprechende Form der Anerkennung darstellen.
So ist im digitalen Raum eine Strategie, um sog. Trolle – also Personen, die durch beabsichtigte Provokationen einen Diskurs erschweren wollen – zu begegnen, der Leitsatz: „Don’t feed the troll“ 418. Dieser Ansatz basiert darauf, dass Trollen keine Aufmerksamkeit zukommen soll, da dies ihr primäres Ziel darstelle 419. Ähnliche Slogans können sich auch auf andere digitale, aber auch physische Phänomene erstrecken. So kann angenommen werden, dass eine Form der Selbstbestätigung auch bei Menschen relevant sein könnte, die Volksverhetzungen bzw. Hatespeech posten 420. Die Studie von Rost et al. deutet darauf hin, dass ein signifikanter Anteil (im Rahmen der Studie sogar 71,8 Prozent) Volksverhetzungen und artverwandte Äußerungen im Internet unter ihrem Klarnamen posten, und zwar weil sie nur so die Anerkennung für ihre Äußerungen erhalten und im besten Fall in der jeweiligen Gruppe einen höheren sozialen Status erreichen können 421. Dies könnte ein Grund sein, warum die Aufklärungsquote bei Volksverhetzungen gem. § 130 StGB über das Tatmittel Internet im Jahr 2016 bei 71,2 Prozent lag, es also offenbar keine großen Probleme bei der Ermittlung der Tatverdächtigen gab 422. Dieses Phänomen zeigt sich auch in der gesellschaftlichen Debatte um Verkehrsunfälle, bei denen sog. „Gaffer“ als Täter Unfälle filmen, um sie online zu teilen oder ins Internet einzustellen 423. In einer mittelbaren Form kann diese Entwicklung u.a. daran abgelesen werden, dass beispielsweise die russische Polizei Warnhinweise mit Piktogrammen zur Anfertigung von Selfies gibt 424, da sich tödliche Unfälle bedingt durch waghalsige Bilder gehäuft haben. Seit 2012 sollen weltweit insgesamt 49 tödliche Unfälle aufgrund der Anfertigung von Selfies bekannt geworden sein 425. Dabei posten oder streamen auch immer mehr Täter ihre Tathandlungen im digitalen Raum, was aus Sicht der Strafverfolgungsbehörden die Ermittlungsarbeit fördert 426. Dieses Wissen um die Zurverfügungstellung von Informationen in Sozialen Medien wird bereits z. B. im Rahmen sog. Open Source Intelligence Techniken (OSINT) von Polizeibehörden weltweit genutzt 427.
Eine besondere Bedeutung nimmt in diesem Gedankengang die Vorbildfunktion von erwachsenen Familienangehörigen und Bekannten ein, aber auch von Persönlichkeiten im öffentlichen Interesse, beispielsweise Schauspielern, Musikern, Sportlern, aber auch Models. So sollen bereits 64 Prozent der Kinder und Jugendlichen ab dem 12. Lebensjahr den „Gefällt mir Button“ von Sozialen Medien einsetzen 428. Damit ist dies nach „Nachrichten an andere verschicken“ (86 Prozent) und „in einer Online-Community chatten“ die dritthäufigste Aktivität von Jugendlichen in Sozialen Medien 429. Entsprechend naheliegend ist dann, dass sich Minderjährige offen im Netz präsentieren und auch die Hemmschwelle zur Kommunikation und zum Austausch von Medien mit reinen Onlinebekanntschaften sinkt. Dies wird insbesondere an der Verbreitung bzw. Veröffentlichung sogenannter Selfies festgemacht, also zumeist mit der internen Kamera von Smartphones gemachter Selbstporträts einer oder mehrerer Personen. Dieser Mechanismus kann wiederum von Cybergrooming-Tätern für die Anbahnung genutzt werden.
Diese Entwicklung geht auch damit einher, dass mittlerweile einige Eltern, aber auch andere Verwandte ganz selbstverständlich Bilder und Videos der eigenen oder anderer Kinder wie auch von Situationen aus dem Lebensalltag der Familie im Internet veröffentlichen. Sicherheitsbehörden wie die Polizei Hagen 430warnen aufgrund der Sicherheitsrisiken, aber auch wegen einer für den Laien undurchsichtigen Rechtslage vor diesem Trend 431. Eine Studie des Internet-Sicherheitsdienstes AVG ergab, dass 81 Prozent der unter 2jährigen Kinder in irgendeiner Form bereits mit Bildern oder Videos im digitalen Raum präsent sind 432. In diesem Bericht wird davon gesprochen, dass die Kinder damit bereits „digital footprints“ – also eine Art digitale Identität – haben 433. Dieser Trend setzt sich beim Heranwachsen fort: Nach einer Studie von 2016 mithilfe des Youth Insight Panels der Bauer Media Group mit 4.400 Jugendlichen in der Altersgruppe von 12–19 Jahren haben bereits 67 Prozent der Mädchen und 49 Prozent der Jungen ab 13 Jahren in Deutschland sog. Selfies – also Selbstporträts – von sich digital veröffentlicht 434. Hierbei ist davon auszugehen, dass diese Kinder nicht alle erst mit 13 entsprechende Bilder gepostet haben, sondern in noch jüngeren Jahren angefangen haben. Diese Tendenz zeigt sich auch darin, dass mittlerweile Kinder selbst als Vlogger (eine Portmanteaubildung aus Video und Blogger) mit der Veröffentlichung eigenproduzierter Videos auftreten 435.
Auch die Anzahl der Freundschaften bzw. Followerzahlen kann diese Entwicklung widerspiegeln. Gemäß einer Studie sollen 12- bis 17-jährige amerikanische Facebook-Nutzer im Durchschnitt 521 Facebook-Freunde haben, in der Altersgruppe der 18- bis 24-Jährigen sogar 649 436. Eine andere Studie kommt für die USA auf eine durchschnittliche Anzahl von 300 Facebook-Freunden in der Alterskategorie von 18 bis 29 Jahren 437. Insgesamt sollen 23 Prozent aller Facebook-Nutzer zwischen 100 und 250 Freunde, 20 Prozent zwischen 250 und 500 Freunde und 15 Prozent sogar mehr als 500 Freunde besitzen 438. Diese Zahlen liegen teilweise weit über dem Limit der sogenannten Dunbar’s Number von etwa 150 Personen, mit denen ein Mensch noch eine freundschaftliche Beziehung im Sinne von Zwischenmenschlichkeit führen kann 439.
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