»Wieso das?«, fragte Katharina.
»Weil ich davon ausging, dass Sie sich nicht für den Fall interessieren, weil die Täterin weiblich ist.«
»Werfen Sie mir gerade eine einseitige Berichterstattung vor?« Katharina fixierte ihr Gegenüber.
»Das würde mir niemals einfallen«, sagte Wehmann lächelnd.
»Ich gebe zu, Herr Wehmann, mein erster Impuls war tatsächlich, auf Ihre E-Mail nicht zu reagieren. Schließlich ist Stalking ein Straftatbestand, der vor allem von Männern an Frauen verübt wird. Und ich denke, mit einem Blick auf die Zahlen von sexueller Gewalt, sowie den Morden an Frauen und den weiteren Formen patriarchaler Unterdrückung, von Gehaltsunterschieden bis Sexismus, unter denen wir Frauen noch immer zu leiden haben, möchte ich mich nicht zum Handlanger zweier Männer machen, die eine bemitleidenswerte, psychisch kranke Frau dafür benutzten, ihre Partnerinnen zu betrügen.«
Wehmann hob eine Augenbraue.
»Ist das der Eindruck, den Sie von dem Fall haben?«
Katharina hielt seinem Blick stand, ohne zu blinzeln.
»Ja, durchaus«, erwiderte sie. »Darf ich erfahren, warum Sie sich in der Sache so engagieren?«
»Julia K. hat einen Antrag gestellt, um aus der forensische Psychiatrie entlassen zu werden. Holger H. und Sebastian K. leben nun in Angst, dass der Terror wieder von vorne beginnen könnte.«
Katharina stieß ein leises Keuchen aus.
»Die Frau sitzt im Rollstuhl.«
»Ich denke Sie sollten mir zuhören, Frau Lug, dann verstehen Sie, dass das keine Rolle bei der Frage spielt, ob der Terror durch Julia K. fortgesetzt werden wird, sobald sie die forensische Psychiatrie verlässt.«
Katharina schwieg einen Moment und musterte Philipp Wehmann eindringlich. Sie war sich noch immer nicht sicher, ob diese ganze Sache hier nicht möglicherweise ein Fehler war. Kurzentschlossen griff sie nach ihrem Aufnahmegerät.
»Können wir anfangen? Erzählen Sie mir einfach alles was Sie über den Fall wissen.« Katharina drückte auf den Play-Knopf ihres Aufnahmegerätes.
»Schießen Sie los«, sagte sie.
Philipp Wehmann lehnte sich zurück. »Es begann vor etwa zwei Jahren. Sie müssen wissen, das Opfer ist seit vielen Jahren ein Freund von mir. Wir kennen uns von unserem ehrenamtlichen Engagement bei der Freiwilligen Feuerwehr. Sebastian ist ein echt sozialer Mensch, arbeitet als Rechtsanwalt, ist zuverlässig, offen, sympathisch. Einer, den man gern in seinem Freundeskreis hat. Als er seine Anna heiratete waren alle sicher, dass die beiden miteinander glücklich werden.
Anfänglich war alles harmonisch wie im Traum, doch daraus wurde ein Alptraum. Nichts war mehr so wie vorher, alles geriet aus den Fugen. Ihre Ehe, die Kinder und sogar die Existenz standen auf dem Spiel. Die andauernde Situation hatte Anna und Sebastian in ihrem Zusammenhalt sowie Vertrauen geprägt. Mit dem Umzug ins neue Haus trat Julia ins Leben und eine Odyssee an Problemen nahm ihren Lauf. Julia hatte vollkommen den Verstand verloren, sie war außer sich. Es stellte sich später heraus, dass Julias Probleme schon in ihrer Kindheit begonnen hatten. Sie zeigte ein auffälliges Verhalten, verletzte sich selbst und äußerte wilde Beschuldigungen. Es kam so weit, dass Julias Eltern gegen ihre eigene Tochter Anzeige wegen Stalking erstatteten. Mehr noch, sie hatten für ihre Tochter eine gesetzliche Betreuung erreicht, um sie gegen ihren Willen in psychiatrische Behandlung geben zu lassen.
Das setzte sich auch in ihrem Erwachsenenleben fort. Als sie 21 war, machte sie eine Ausbildung zur Verlagskauffrau und verliebte sich unsterblich in ihren damaligen Chef. Dieser wies ihre Avancen zunächst freundlich, dann immer entschlossener zurück. Als er sie dabei erwischte, wie sie seinen Schreibtisch durchwühlte, entließ er sie. Und damit begannen die Probleme erst richtig.
Julia lauerte ihm auf, tauchte vor seinem Haus auf, behauptete sie sei schwanger von ihm. Es kam zu einem Zwischenfall, bei dem seine Frau auf dem Gehweg stürzte und sich am Arm verletzte. Julia wurde zu vier Monaten Gefängnis verurteilt. Eine strenge Strafe, als eine Art Warnschuss gedacht.
Nach der Entlassung kehrte das alte Verhalten wieder zurück. Wegen erneuter Verstöße wurde sie zu vier Monaten Frauengefängnis verurteilt. Julia peinigte ihren Auserwählten täglich mit 80 Anrufen, meistens anonym, damit man ihr kein Fehlverhalten zusprechen konnte. Julia lebt in ihrer eigenen Welt. Für sie ist alles in bester Ordnung. Sie findet keinen Bezug zur Realität, benutzt Freunde, ihre Familie, sogar ihre eigenen Kinder setzt sie auf dieses gefährliche Spiel. Dann war Julia für 20 Monate in einer geschlossenen psychiatrischen Klinik. Nun hatte ihr Opfer für eine Weile Ruhe, weil …«
Katharina hob eine Augenbraue. »Weil?«
»Weil Julia ein neues Opfer fand. Den Vater ihrer beiden Kinder. Ich hatte Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. Er lebt heute knapp 600 Kilometer entfernt unter neuem Namen, seine Adresse ist geheim. Zu seinen Kindern hat er keinen Kontakt. Möchten Sie wissen weshalb?« Katharina nickte. »Nur zu.«
Philipp faltete seine Hände. »Ich erzähle Ihnen die Kurzform. Markus L. ist das, was man gemeinhin einen guten Kerl nennen würde. Er stammt aus einem kleinen Dorf im Odenwald und seinem Vater gehörte ein Autohaus. Er ist breitschultrig, im Schützenverein, fährt einen tiefergelegten Golf. Dann stirbt der Vater als er gerade 22 ist und auf einmal gerät sein Leben aus den Fugen. Er bekommt eine Angststörung, Depressionen und der Hausarzt, der die Familie schon lange kennt, verschreibt ihm zuerst Tabletten. Dann weist er ihn in eine Klinik ein. Und in eben dieser Klinik begegnet Markus L. dann Julia.
Er schließt sie fast sofort in sein Herz. Sie ist blond, ganz zart und so verletzlich. Und da sind diese schrecklichen Narben auf ihren Armen. Er hat das Bedürfnis sie zu beschützen. Sie erzählt ihm von Missbrauch, davon, was die böse Welt ihr angetan hat. Der Ex-Chef, der sie vergewaltigt hat und dafür nie vor Gericht kam. Dass sie selbst im Gefängnis war, das verschweigt sie.
Sie müssen sich an dieser Stelle das Setting in so einer Klinik vorstellen. Man ist weit draußen, irgendwo in der Natur. Es gibt Therapien und für das Essen ist gesorgt, aber die Patienten verbringen viel Zeit gemeinsam und man kommt sich näher.
So ist es auch bei Julia und Markus. Die beiden verlieben sich ineinander und noch bevor der Aufenthalt vorbei ist, ist Julia schwanger, und zwar mit Zwillingen.
Markus ist im 7. Himmel und auch seine Familie heißt Julia mit offenen Armen willkommen. Über die Narben auf ihren Armen sieht man hinweg. Auch über ihre Vergangenheit möchte man nicht genau Bescheid wissen. Markus erklärt seiner Mutter Julia habe es schwer gehabt, doch die frisch verwitwete Mutter will das gar nicht wissen. Sie freut sich nur auf die Enkel.
Julia zieht bei Markus ein, das Glück scheint perfekt. Die Kinder kommen zur Welt, doch dann bekommt das Glück Risse.
Julia ist total überfordert, bald liegt sie nur noch im Bett. Markus hofft, dass sich alles bessert, doch es bessert sich nichts.
Markus hält es zu Hause nicht mehr aus. Er trifft sich mit Freunden, ist viel unterwegs. Und jetzt fangen die Probleme erst richtig an.
Julia verfolgt ihn, kontrolliert sein Handy, unterstellt ihm Affären. Als sie ihn einmal dabei beobachtet, wie er mit einer anderen Frau spricht, sticht sie dieser die Reifen kaputt.
Markus kann den Fall abwiegeln, denn eine postnatale Depression wird diagnostiziert. Julia soll Medikamente nehmen. Doch es wird nicht besser.
Um sich Erleichterung zu verschaffen, geht Markus selbst zu einer Therapie. Julia schneidet der Therapeutin die Bremskabel durch, sie stirbt fast, als ihr auf der Landstraße die Bremsen versagen.
Als Markus sie darauf anspricht, dreht Julia durch und zündet das gemeinsame Haus an. Das war zu viel für ihn, er trennt sich von ihr. Die Kinder dürfen bei Julia bleiben, auch weil sie Markus droht, dass er niemals Ruhe vor ihr haben wird, wenn er ihr die Zwillinge wegnimmt.«
Читать дальше