Irgendwann drehte er sich um und ging ins Haus.
Es dämmerte bereits, als das Blaulicht die Straße in dem Wohngebiet erhellte und zwei Beamte sich dem Garten hinter dem Reihenhaus näherten.
Kaum einer erinnert sich noch an die Zeit, die vor über zwei Jahren begann. Anfänglich harmonisch wie im Traum, doch daraus wurde bald ein Alptraum.
Nichts war mehr so wie vorher. Alles geriet aus den Fugen. Ihre Ehe, die Kinder und sogar die Existenz standen auf dem Spiel. Die andauernden Belastungen und die daraus entstandenen, bedrohlichen Situationen hatten den beiden Ehepaaren Volker und Isabell, sowie Sebastian und Anna maßgeblich zugesetzt. Als Volker mit Julia in das neue Haus einzog, begann ein neues Leben und eine Odyssee an Problemen nahm ihren Lauf. Julia war nicht mehr Herr der Lage, ihr Verstand herrschte in zwei Welten. Es kam so weit, dass Julias Eltern gegen ihre eigene Tochter Anzeige wegen Stalking erstatteten. Mehr noch, sie ließen ihre Tochter entmündigen, um einer Zwangseinweisung und einer psychiatrischen Behandlung Folge leisten zu können.
Nach der Freilassung kehrte das alte Verhalten wieder zurück. Wegen erneuten Verstößen wurde sie zu vier Monaten Frauengefängnis verurteilt. Julia peinigte ihren Auserwählten täglich mit 80 Anrufen. Meistens anonym, damit man ihr kein Fehlverhalten vorwerfen konnte. Sie lebte in ihrer eigenen Welt. Für sie war alles in bester Ordnung. Julia fand keinen Bezug zur Realität. Sie benutzte Freunde, ihre Familie, sogar ihre eigenen Kinder setzte sie auf dieses gefährliche Spiel.
Nun ist Julia für 20 Monate in einer geschlossenen psychiatrischen Klinik untergebracht. Lange ist es nun her. Den beiden Ehepaaren bescherte es ein ruhiges und harmonisches Leben - kein Stalking, keine Anrufe, keine nächtlichen Unruhen und Observationen. Geschafft!!! Doch plötzlich klingelt das Telefon, ein anonymer Anruf! Hat die Justiz versagt? Oder …
Katharina Lug tippte die letzte Zeile ihres Artikels und schickte ihn gerade noch rechtzeitig vor Redaktionsschluss an ihren Chef vom Dienst.
Seit knapp drei Jahren arbeitete sie für ein regionales Magazin, das sich vor allem mit lokalen Themen aus dem Münchner Umland befasste. In den letzten Wochen und Monaten hatte sie immer wieder über das Thema Stalking berichtet.
Mit ihren 28 Jahren gehörte Katharina zu einer Generation von Frauen, die sich selbst als emanzipiert verstanden. Sie war gut ausgebildet und karriereorientiert und es störte sie, dass trotz der nominellen Gleichberechtigung vieles in Sachen Frauenrechte noch immer im Argen lag, vor allem, wenn man einen Blick in die Kriminalstatistik warf.
Statistisch gesehen wurde jeden zweiten Tag eine Frau in Deutschland von ihrem Partner oder Ex-Partner ermordet. »Familiendrama« nannte die Presse das dann euphemistisch. »Femizid« nannte es Katharina.
Beim Thema Stalking waren die Zahlen sogar noch drastischer. Bis zu zwei Drittel der Opfer von Stalking waren weiblich, jede fünfte Frau erlebte in ihrem Leben einmal Stalking, jede Dritte sogar Gewalt.
Obwohl die Rechtsprechung in den letzten Jahren immer wieder verschärft worden war und Stalking mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft werden konnte, sah die Praxis ganz anders aus.
Ein Täter, der sich zuvor nichts zu Schulden hatte kommen lassen, konnte damit rechnen, straffrei auszugehen. Nicht nur Katharina hatte den Verdacht, dass es dabei vor allem um eine Art männliches Wohlwollen ging, das Richter gegenüber männlichen Tätern walten ließen. Stalking, so die Auffassung, war ein Kavaliersdelikt. Dass es die Leben der Opfer nachhaltig beeinträchtigte und in vielen Fällen sogar zerstörte, wurde dabei nicht berücksichtigt.
Katharina kannte mehrere Stalkingopfer, die inzwischen unter falschen Namen in anderen Städten lebten, nur um endlich Ruhe vor ihrem Stalker zu haben und von der ständigen Angst begleitet wurden, dass ihr Stalker sie wieder fand.
Eine E-Mail ploppte auf. Obwohl sich der Feierabend näherte klickte Katharina sie an, weil sie aus der kommunalen Stadtverwaltung stammte.
Philipp Wehmann war Stadtrat für Soziales. Sie kannte ihn aus verschiedenen Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung, hatte aber bislang kaum persönliche Berührungspunkte mit ihm.
Neugierig geworden, scrollte Katharina durch die E-Mail.
Sehr geehrte Frau Lug , las sie. Aufmerksam verfolge ich schon seit einigen Jahren Ihre Berichterstattung über das Thema Stalking. Dabei ist mir aufgefallen, dass in den Fällen, über die Sie berichten, die Täter allesamt männlich, die Opfer weiblich sind .
Deshalb möchte ich Sie gerne auf einen Fall aufmerksam machen, der sich hier bei uns zugetragen hat und bei dem es andersherum ist .
Das Opfer ist ein Unternehmer! Die Täterin eine alleinerziehende Mutter, die bereits mehrfach von einem Gericht verurteilt wurde, zuletzt zu einer mehrmonatigen Gefängnisstrafe. Dennoch hörten die belästigenden Anrufe und Besuche nicht auf, gipfelten sogar in rufschädigenden Verleumdungen im Internet .
Vielleicht erinnern Sie sich an einen Polizeieinsatz im letzten Herbst, bei dem es um einen Einbruch ging. Eine junge Frau wurde mit einer Verletzung ins Krankenhaus eingeliefert und befindet sich nun in der forensischen Psychiatrie. Es handelt sich um eben jene Täterin. Ohne dramatisch klingen zu wollen lässt sich festhalten, dass das Opfer ihrer Taten nur knapp mit dem Leben davonkam .
Es ist mir ein Anliegen, als Stadtrat für Soziales, über dieses Thema zu informieren und würde mich sehr freuen, mit Ihnen über diesen Fall und mögliche politische Implikationen zu sprechen. Im Anhang erhalten Sie zahlreiche Unterlagen, die Ihnen einen Einblick in diesen hochbrisanten Fall ermöglichen .
Katharina runzelte die Stirn. Was sollte das? Wollte dieser Typ sie etwa vor seinen Karren spannen? Sie erinnerte sich an den Fall.
Sie öffnete ihre Suchmaschine und gab einige Suchbegriffe ein. Sofort erschienen einige Einträge von Zeitungsberichten.
Die junge Mutter hatte mit zwei Männern eine Affäre, beide waren verheiratet oder liiert gewesen. Offenbar hatte die junge Frau unter psychischen Problemen gelitten und als die Männer die Affären mit ihr beenden wollten, hatte es Schwierigkeiten gegeben. Die Frau hatte nicht länger Stillschweigen bewahren wollen und jetzt saß sie im Rollstuhl. Ein tragischer Fall, doch was das mit Stalking zu tun haben sollte, leuchtete Katharina nicht ein.
»Spinner«, murmelte sie, schloss ihr Browserfenster und fuhr ihren Rechner herunter.
Etwa zwei Stunden später saß Katharina mit ihrem besten Freund Jan im Havannas , einer kleinen gemütlichen Cocktailbar in der Innenstadt und schlürfte zwei köstliche Cuba Libre.
Jan, der gerade seine Doktorarbeit schrieb, wirkte entgegen seiner sonstigen Gewohnheit irgendwie abgelenkt und zerstreut. Ständig blickte er auf sein Handy.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Katharina.
»Was? Ähm, ja, ja, entschuldige, es ist nur …« Jan machte ein zerknirschtes Gesicht.
»Es ist nur was?«
»Ach, nichts.« Jan winkte ab.
»Wie geht es eigentlich Lisa? Sie macht doch jetzt auch Examen, oder?«
Lisa war seit knapp drei Monaten Jans Freundin.
Bei der Erwähnung ihres Namens zuckte Jan zusammen, als hätte er einen leichten Stromschlag bekommen. Er verschluckte sich an seinem Cuba Libre und hustete.
»Ja, ja, ich denke sie wird das Examen auf das nächste Jahr verschieben. Ihr geht es gerade nicht so gut«, erklärte er.
»Oh, das tut mir leid zu hören. Was hat sie denn?«, fragte Katharina.
»Das ist ein wenig kompliziert.« Jan wich ihrem Blick aus. Wieder zog er sein Handy hervor. Das Display leuchtete auf. Ein Anruf ging ein, Lisas Name war zu lesen. Jan schaltete das Display aus.
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