Als Erwachsener bzw. Erwachsene ist sich diese Person ihrer inneren Wut höchstwahrscheinlich überhaupt nicht bewusst. Sie will und kann sich nicht klar erkennen, weil sie diesen Aspekt ihrer selbst zurückgewiesen hat. Sagen ihr dann die Leute, sie wirke wütend, kann sie damit überhaupt nichts anfangen und hält sich wahrscheinlich nur für locker und unkompliziert.
Wir wissen also: Wenn wir etwas ablehnen (und damit unterdrücken), verschwindet es keineswegs, sondern entschwindet nur unserer bewussten Wahrnehmung. Um die verdrängte Erinnerung anzuerkennen, bringen Sie genau die Angst vor Zurückweisung hoch, die Sie, als Sie noch klein waren, unterdrückt haben, und haben womöglich das Gefühl, Sie würden sterben. Kein Wunder also, dass vollständige Selbstbewusstheit und Selbsterkenntnis so schwer zu erreichen ist.
Wir sind alle sozialisiert worden und haben daher alle diesen Prozess der Abspaltung durchlaufen. Wir werden erwachsen und nehmen manche Teile an und lehnen andere Teile ab. Aus dieser Selbstablehnung wird Selbsthass geboren. Die Leere, die wir fühlen, ist auf diese abgelehnten (und damit unterdrückten) Anteile unserer selbst zurückzuführen. Unsere Seele will nur eins: Uns wieder ganz machen.
Auf unserem Weg durchs Leben werden uns alle Chancen geboten, wieder ganz zu werden. Aber um zur Ganzheit zurückzukehren, müssen wir diejenigen unserer Aspekte erkennen und akzeptieren, die auf diesem Weg abgelehnt und unterdrückt wurden. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie unglaublich schmerzlich das ist. Selbsterkenntnis fällt Menschen, die Schmerzen vermeiden, nicht von alleine in den Schoß, denn um sich diese verloren gegangenen Aspekte bewusst zu machen, müssen wir damit aufhören, der inneren Leere entkommen zu wollen.
Attraktion und Projektion
Was passiert nach jahrelanger Selbstablehnung? Vielleicht fangen wir an, einen Charakterzug, den wir abgelehnt (und damit unterdrückt) haben, überzukompensieren. Eine Person, die beispielsweise den Streber in sich unterdrückt, wird apathisch und teilnahmslos. Ein Mensch, der seinen apathischen Aspekt unterdrückt, wird zum Streber, der in allem der Beste sein muss. Das Gesetz der Anziehung bzw. Attraktion gilt für all unsere Extreme. Wir passen zu denen, die uns unsere eigenen unterdrückten Aspekte spiegeln. Diese Menschen ziehen uns an, obwohl sie scheinbar unser Gegenteil sind, weil der abgelehnte Anteil unserer selbst nach wie vor tief in uns verborgen ist.
Deshalb sind unsere Beziehungspartner (bzw. die Menschen, die uns am nächsten stehen) oft so gegensätzlich: Sie sind unsere Spiegel, die uns die Eigenschaft widerspiegeln, die wir unterdrückt haben, und wir spiegeln ihnen den Aspekt, den sie unterdrückt haben. Das heißt, die apathische Person gerät an eine ehrgeizige Person, und beide fügen sich gegenseitig Schmerzen zu, weil beide den jeweils anderen an den abgelehnten eigenen Aspekt erinnern.
Das folgende Diagramm kann Ihnen helfen, besser zu verstehen, was die Vorstellung des verlorenen Selbst mit der Anziehung zu tun hat: Die weißen Teile des Tortendiagramms stehen für das Bewusstsein, die schwarzen Teile für das Unterbewusstsein. Wären die Kreise für Person 1 und Person 2 völlig weiß, wären die beiden vollkommen bewusst. Aber das sind sie nicht; beide Personen haben eine Reihe schwarzer Tortenstücke, die für einen abgelehnten und unterdrückten unterbewussten Aspekt stehen. Jeder von uns drängt von Natur aus zur Ganzheit, und deshalb zieht es uns zu den bewussten Aspekten einer anderen Person, die unterbewusst in uns vorhanden sind.
Erkennen Sie die Polarität der beiden Kreise? Zusammen ergeben Sie ein Ganzes, einen komplett weißen Kreis – er steht für die Ganzheit des Selbst. Jede Person spiegelt der anderen Person, was in ihrem Selbst fehlt.
Entscheidend dabei ist: Wir erkennen in anderen Dinge, deren wir in uns selbst völlig unbewusst sind. Das ist das Wesentliche an Projektionen. Wenn wir unsere eigenen negativen Aspekte (die wir früher abgelehnt haben) in anderen sehen, löst das eine Reaktion aus, und zwar dieselbe Reaktion, die wir bereits vor langer Zeit darauf hatten: Wir lehnen diesen Aspekt ab, hassen ihn, wollen ihn loswerden und alles tun, um ihn zu vermeiden!
Sehen wir andererseits unsere eigenen positiven Aspekte (die wir früher abgelehnt haben) in einer anderen Person, dann verlieben wir uns, weil uns das wie unsere Chance vorkommt, wieder ganz zu werden. Wir wollen mehr davon. Wir werden danach süchtig. Wir himmeln die Person an, stellen sie aufs Podest, machen sie zum Idol. Genau das passiert, wenn Mädchen massenweise auf Popkonzerten herumkreischen. Diese Mädchen projizieren die positiven Aspekte, die sie in sich selbst abgelehnt haben – meistens ein Gefühl der Wichtigkeit – auf die Person auf der Bühne.
Unsere abgelehnten Aspekte zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie für uns völlig unsichtbar sind und für andere vollkommen sichtbar. Und wissen Sie was? Genauso soll es auch funktionieren. Projizieren ist nichts Falsches oder Schlechtes; es ist ganz normal.
Hier ist eine wichtige Lektion: Jede extreme Abneigung gegen einen Charakterzug in einer anderen Person spiegelt das Maß der Ablehnung wider, die wir gegen eben diesen Charakterzug bzw. potenziellen Charakterzug in uns selbst entwickelt haben. Je mehr wir etwas an einem anderen Menschen hassen, desto stärker haben wir genau diese Eigenschaft vor langer Zeit an uns selbst abgelehnt. Und auch je mehr wir etwas an einem anderen Menschen lieben, desto mehr haben wir es an uns selbst vor langer Zeit abgelehnt.
Projektionen – eine Klarstellung
In unserer Kultur herrscht ein allgemeines Missverständnis vor, was Projektionen angeht und das ich klarstellen möchte. Angeblich projizieren wir unser eigenes abgelehntes Selbst auf jemand anderen, der diese Eigenschaften überhaupt nicht aufweist. Aber so funktioniert es nicht; Projektionen verlaufen so gut wie immer in beide Richtungen.
Oft projizieren wir etwas auf eine andere Person, was tatsächlich in dieser Person drinsteckt. Wir weisen womöglich dieselbe Eigenschaft auf oder auch nicht; aber egal, wie es nun ist, wir erkennen diesen Charakterzug, denn bei ihrem Anblick bricht die alte Verletzung wieder auf, die wir nach wie vor in uns tragen, weil wir diesen Aspekt in uns abgelehnt haben. Auch wenn jemand etwas auf uns projiziert, müssen wir mit dieser Erfahrung mitschwingen –oder anders ausgedrückt: Auch die Erfahrung, dass auf uns etwas projiziert wird, spiegelt etwas wider, was in uns abgelehnt und zurückgewiesen wurde.
Projizieren hat sich zu einer der meistgenutzten Ablenkungstechniken aller Zeiten entwickelt. Oft dienen Projektionen auch als faule und bequeme Ausrede, um keinen objektiven Blick auf sich selbst werfen zu müssen. Sie sagen einfach: »Du projizierst ja nur«, wenn jemand in Ihnen einen negativen Aspekt ausmacht.
Doch in Wahrheit können wir einen anderen Menschen erst dann bewusst und klar wahrnehmen, wenn wir uns unserer selbst vollständig bewusst sind, sonst betrachten wir die anderen weiterhin durch den Filter unseres Unterbewusstseins. Jedes Mal, wenn wir uns weigern, uns selbst anzuschauen, und sooft wir dann sagen: »Du projizierst ja nur«, um das zu verbergen, verpassen wir die Chance, einen klaren Blick auf uns selbst zu werfen. Und wir verpassen auch die Chance, unsere Welt und uns gegenseitig klar zu sehen und zu erkennen.
Jeder projiziert. Unser Ziel sollte also nicht darin bestehen, mit dem Projizieren aufzuhören, sondern vielmehr, uns unserer selbst so weit wie möglich bewusst zu werden. Wir können unsere extremen negativen Reaktionen auf andere und auch unsere positiven Reaktionen als die perfekte Chance zur Selbsterkenntnis betrachten.
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