Vor dem Haus hatten meine Eltern einen verwilderten Garten vorgefunden, dessen Lattenzaun total zusammengebrochen war. Eine der ersten »Amtshandlungen« meines Vaters war es gewesen, die Überreste des Zauns wegzuräumen und als Brennholz beiseitezulegen. Die Wildnis pflügte er kurzerhand um. Nachdem das Unkraut unter der Erde verschwunden und weitgehend vermodert war, ging er mit der Egge darüber. Dann grenzte er den Garten mit einem soliden Lattenzaun vom übrigen Hof ab, damit die Hühner nicht hineinlaufen und das Eingesäte wegpicken konnten. Einsäen konnte die Mutter aber erst im folgenden Frühjahr. Aus der anfänglichen Wildnis hatten beide schon bald einen fruchtbaren Nutzgarten gezaubert, der die Familie fast das ganze Jahr über mit allem versorgte, was damals in unserer Region wuchs: Zwiebeln, Lauch, Möhren, Kopfsalat, Gurken, Radieschen, Bohnen, Erbsen, Blaukraut und Weißkraut. Auch Petersilie und Schnittlauch fehlten nicht. Ja, sogar Frühkartoffeln erntete sie aus ihrem Garten.
Für die Winterkartoffeln hatte der Vater ein ganzes Feld angelegt. Hinter dem Haus standen noch einige Obstbäume, die allerdings recht verwahrlost wirkten. Von einem Nachbarn, der sich mit der Pflege von Obstbäumen auskannte, ließ er sie schneiden. Danach hatten wir von Juli bis Oktober unser frisches Obst. Auch im Winter profitierten wir davon. Äpfel wurden in dem kleinen Keller unter der Küche gelagert. Aus Zwetschgen und Birnen wurde Dörrobst gemacht, und viele Jahre später, als es Weckgläser gab, wurden Kirschen, Zwetschgen und Birnen eingemacht, sodass wir den ganzen Winter über Kompott hatten.
Im Hof neben dem Nutzgarten befand sich der Ziehbrunnen, aus dem wir unser Trink- und Brauchwasser schöpften. Dieses Wasser war aber zu kostbar, um damit den Nutzgarten zu gießen, falls es einmal längere Zeit nicht geregnet hatte. Zum Gießen benutzten wir Regenwasser. Beim Decken der Dächer hatte der Vater genügend Weitblick bewiesen und ordentliche Dachrinnen und solide Fallrohre an allen vier Ecken anbringen lassen. Unter jedem stand ein Regenfass, in dem das wertvolle Nass aufgefangen wurde. Zum Wäschewaschen benutzte die Mutter dieses Wasser auch gerne, weil es weich war, sodass man weniger Waschpulver benötigte.
Meine Eltern waren sehr glücklich, als sie endlich beisammen sein konnten. Dass ihr Leben nicht einfach werden würde, war ihnen von vorneherein klar gewesen. Dass sie sich von früh bis spät im Stall und auf den Feldern abrackern mussten, hatten sie ebenfalls gewusst. Dennoch waren beide selig, ihren Traum vom eigenen Bauernhof verwirklicht zu haben. Damit ein bisschen Bargeld einging und sie schneller von ihren Schulden herunterkommen würden, nahm mein Vater, nachdem die eigenen Gebäude und Felder instand gesetzt waren, wieder eine Tätigkeit als Zimmermann an. Er hatte das Glück, bei einem Meister angestellt zu werden, der seine Werkstatt in Maierklopfen hatte. So kam er jeden Abend heim und konnte seine Feldarbeiten erledigen. Meine Mutter kam mit dem Stall ganz gut allein zurecht.
Für beide bedeutete es ein weiteres Glück, als übers Jahr ein gesundes Kind in der Wiege lag. Die Wiege hatten sie in der Abstellkammer gefunden, auf dem Holz war die Jahreszahl 1754 zu lesen. Vermutlich hatten die Ahnen unserer Vorbesitzer diese voller Stolz über ihren Stammhalter aufmalen lassen. Meine Eltern waren nicht enttäuscht, dass ihr erstes Kind ein Mädchen war. Sie gaben ihm den Namen Maria, und die junge Mutter meinte: »Dann haben wir schon mal eine Kindsmagd für die anderen, die noch kommen werden.«
Kasper sah das ebenso positiv: »Ein Dirndl ist gut, so hast du bald eine Hilfe im Haushalt.«
Im Jahr darauf kam ein Bub zur Welt. Zur Enttäuschung seiner Eltern war er so schwächlich, dass er keine Überlebenschance hatte. In der Nottaufe durch die Hebamme bekam er den Verlegenheitsnamen Toni, denn seinen eigenen Namen wollte der Bauer aufheben für seinen Hoferben. Der kleine Toni starb nach einigen Stunden.
Als im Jahre 1911 Tochter Anna zur Welt kam, waren die jungen Eltern nicht allzu enttäuscht. Doch als 1913 mit Jung-Kasper endlich der Stammhalter in der alten Wiege lag, jubelten sie.
Ein Jahr später brachte Anna wieder ein Mädchen zur Welt. Es bekam den Namen Elisabeth. Im Sommer desselben Jahres brach leider der unselige Krieg aus. Anfangs hatte mein Vater noch Glück, aber nach dem ersten Kriegsjahr wurde auch er zu den Waffen gerufen. Nun stand meine Mutter allein da mit der Landwirtschaft und vier kleinen Kindern, von denen noch keines alt genug war, um mithelfen zu können. Für sie muss es eine schwere Zeit gewesen sein. Als sie mir davon erzählte, konnte sie sich selbst nicht mehr vorstellen, wie sie alles geschafft hatte. Nur für die schweren Feldarbeiten hatte sie Hilfe gehabt. Der Altbauer von einem Nachbarhof hatte für sie gepflügt, denn ihr fehlte es an Kraft, den Pflug tief genug in die Erde zu drücken.
Zur Heuernte bekam Kasper glücklicherweise Fronturlaub, und auch zur Getreideernte war er wieder da. Ende Oktober durfte er sogar noch mal für zwei Wochen nach Hause, um Brennholz zu schlagen. Im Winter 1916 erkrankte die kleine Elisabeth an Lungenentzündung und starb nach wenigen Tagen. Ihr Vater konnte noch nicht mal zur Beisetzung kommen.
Im vierten Kriegsjahr erlitt mein Vater eine Schussverletzung am Unterschenkel. Damit war für ihn der Krieg aus, und er wurde nach einem kurzen Lazarettaufenthalt nach Hause entlassen. Bis sein Bein wieder völlig genesen war, war der Krieg vorbei. Nach seiner Heimkehr wuchs die Kinderschar weiter an. Ende 1918 wurde Magdalena (Leni) geboren. Im Jahr darauf erblickte Josef (Sepp) das Licht der Welt. Im Jahre 1920 kam Johann (Hans) bei uns an und zwei Jahre später der Michael, von allen nur Mich genannt. Im Inflationsjahr 1923 tat ich meinen ersten Schrei in meinem Vaterhaus und zwar am 25. Mai.
Die Inflation konnte meinen Eltern nichts anhaben. Sie besaßen kein Geld, das sie hätten verlieren können. Und da wir unsere Lebensmittel selbst produzierten, berührte es uns auch nicht, dass die Preise in unermessliche Höhen schossen. Da Haus- und Grundbesitz restlos abbezahlt waren, profitierten wir aber auch nicht von der Inflation. Mein Vater hat mir später erzählt, dass einige Bauern kurz vor der Währungsreform mit dem wertlosen Geld ihre Schulden abbezahlt hätten und nachher gemachte Leute gewesen wären.
Bei meiner Geburt war meine Mutter bereits vierzig Jahre alt. Daher war ich das Schlusslicht der Familie. Als Jüngste der Kinderschar hatte ich immer das Gefühl, willkommen zu sein und besondere Privilegien zu genießen. Nicht nur meine Eltern, nicht nur meine großen Schwestern Maria und Anna umsorgten mich liebevoll, auch meine großen Brüder bemühten sich rührend um mich.
Für alle meine Geschwister war es selbstverständlich, dass sie schon früh in der Landwirtschaft mit anpacken mussten. Noch vor ihrem Schulweg nach Hörgersdorf, der eine Dreiviertelstunde dauerte, halfen sie im Stall mit. Die Buben mussten Rüben schneiden, Heu herunterwerfen und ausmisten. Die Mädchen mussten melken und die Milch durch die Zentrifuge geben.
Im Sommer wanderte man grundsätzlich barfuß zur Schule, über Stock und Stein, egal ob es regnete oder kalt war, was uns Kindern nichts ausmachte. Die Schuhe mussten ja für den Winter geschont werden.
Für mich selbst begann 1929 mit der Einschulung der Ernst des Lebens. Wohlbehütet tippelte ich mit meinen Geschwistern Leni, Sepp, Hans und Michl zur Schule. Auf dem Hinweg war immer Eile angesagt, doch auf dem Heimweg trödelten wir ein bisschen herum und hatten viel Spaß miteinander. Als Mitte November der erste Schnee lag, ging es auf dem Heimweg besonders lustig zu, zumal uns noch Kinder von Nachbarhöfen ein Stück des Weges begleiteten. Wenn im Dezember die Schneehöhe gewaltig zunahm, stapften die Buben voraus und spurten den Weg. Wir Dirndln trotteten hinterdrein.
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