Betrachtet man die Entwicklung der psychisch bedingten Krankenstandsraten, so entsteht eine Perspektive, die einem Angst machen kann. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist Stress eines der größten Gesundheitsrisiken des 21. Jahrhunderts. Psychische Belastungen sind inzwischen Ursache Nummer eins bei den Frühverrentungen in Deutschland. Das Durchschnittsalter liegt hier bei 48 Jahren. 2011 wurde bei 32,6 Prozent aller Diagnosen eine psychische Erkrankung festgestellt. Die Zahl der Menschen, die deswegen stationär im Krankenhaus aufgenommen wurden, hat sich mehr als verdoppelt. Die Zahl der Fehltage ist um 80 Prozent gestiegen. 2011 belief sich die Zahl der Fehltage in Folge von Arbeitsunfähigkeit auf 59 Millionen. In unserem Nachbarland Österreich sieht es nicht besser aus. Seelische Beschwerden verursachten 2009 dort mehr als 2,4 Millionen Krankenstandstage. Bei einem Burn-out rechnet man im Durchschnitt mit einer Ausfallzeit von ca. 90 Tagen. Verglichen mit den Zahlen von 1995 war bei den Frauen ein Anstieg um 155 Prozent und bei den Männern um 88 Prozent zu verzeichnen. Die Krankenhausaufenthalte stiegen um 96 Prozent. Die Pensionen wegen Erwerbsunfähigkeit stiegen laut Angaben des Hauptverbandes der österreichischen Sozialversicherungsträger seit 1995 um 116 Prozent. Die Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz geht davon aus, dass europaweit rund 60 Prozent aller Fehlzeiten auf beruflichen Stress zurückgehen.
Stress ist die häufigste Ursache für Burn-out, so die WHO. Sie schätzt die Kosten durch stressbedingten Arbeitsausfall auf jährlich 20 Milliarden Euro, allein für Unternehmen in Deutschland. Experten nehmen an, dass etwa 10 - 15 Prozent aller Beschäftigten betroffen sind. 30 Prozent werden nach deren Meinung zukünftig auf jeden Fall erkranken. Die Dunkelziffer liegt inzwischen bereits bei 30 Prozent! Einer weiteren Studie der WHO zufolge soll im Jahre 2020 Burn-out die zweithäufigste Krankheit sein. Weiter heißt es dort, psychische Erkrankungen seien die neuen Seuchen unserer Zeit. Im Jahr 2014 ist die Zahl der psychisch Erkrankten um 12 Prozent gestiegen, die Fehlzeiten wegen Depression seit dem Jahr 2000 um 70 Prozent.
Die Gefahren für Unternehmen, Betroffene und deren Angehörige sind zweifellos gravierend. Es besteht nur eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit einer hundertprozentigen Genesung durch eine gesetzlich finanzierte Therapie nach einem Burn-out. Laut einer Studie der Bundes-Psychotherapeuten-Kammer (BPtK) erlangen maximal 80 Prozent der Erkrankten ihre Berufsfähigkeit zurück. Das bedeutet: 20 Prozent kehren nie wieder ins Berufsleben zurück und von den Genesenden erreichen lediglich 70 Prozent ihre volle ursprüngliche Leistungsfähigkeit wieder. Hier liegt die Frage auf der Hand, was denn Genesung bedeutet. Vielleicht ist damit auch nur gemeint, jemanden so weit wiederherzustellen, dass er von Neuem in der Tretmühle mitlaufen kann.
Die betrieblichen Belastungen durch Burn-out sind enorm. So müssen Unternehmen Abwesenheiten betroffener Mitarbeiter von sechs Wochen bis zu zwölf Monaten kompensieren. Etwa 60 Prozent aller Betroffenen fallen für mindestens sechs Wochen aus. Jeder Neunte, so schätzen Betriebskrankenkassen, leidet an Burn-out. Aus Befragungen geht hervor, dass 30 bis 35 Prozent aller Lehrer in Deutschland, 40 bis 60 Prozent der Pflegekräfte und mehr als 30 Prozent der Ärzte betroffen sind. Die Burn-out-Patienten werden immer jünger – bereits Schüler gehören zum Patientenkreis. Man kann inzwischen von einer Volksseuche sprechen.
Das Zeugnis der Felix Burda Stiftung fällt nicht gut aus: »... Allerdings hat erst eine Minderzahl der Arbeitgeber die Vorsorge als Erfolgsfaktor für sich erkannt. Vom Kleinbetrieb bis zum DAX-Konzern fehlt noch häufig das notwendige Know-how zur Umsetzung betrieblicher Gesundheitsvorsorge. Dass die politischen Rahmenbedingungen betriebliche Vorsorge nur unzureichend unterstützen, macht es Gesundheitsmanagern und Krankenkassen schwer, präventive Maßnahmen im angestrebten Umfang umzusetzen …«
Weitgehend verschont vom Burn-out bleibt, wenn man den Zahlen glauben darf, ausgerechnet die Gruppe der Beschäftigten, in der die höchste Belastung vermutet wird: Top-Manager, das zeigen Erfahrungsberichte, brennen seltener aus. Gründe hierfür könnten die angemessene Anerkennung in Form eines hohen Gehalts, die Liebe zum Beruf oder die in Führungsebenen gebotene Stressresistenz sein. Schwäche zu zeigen ist auf diesen Etagen allerdings ebenfalls immer noch ein Tabu.
Genug der Vorrede – jetzt geht es los. Gewinnen Sie Hoheit über Ihr Leben. Sind Sie glücklich?
Es ist keine große Herausforderung, so zu sein,
wie andere Menschen es sich wünschen,
die große Kunst besteht darin, so zu sein, wie man ist.
Quelle unbekannt
Was geschieht hier eigentlich?
Dinge wahrzunehmen ist der Keim der Intelligenz.
Laotse
Finden Sie es nicht auch auffällig, dass in Ländern, wo Menschen allen Grund hätten, unter Stress zu leiden – weil sie nicht wissen, wie sie an Nahrung kommen oder ob sie in der nächsten Nacht ein Dach über dem Kopf haben werden, geschweige denn, ob sie überhaupt am Leben bleiben –, Burn- out wenig oder gar nicht bekannt ist?
Die Menschen im zwanzigsten Jahrhundert haben zwei Weltkriege mit unglaublichen Belastungen erlebt und noch früher waren Arbeitstage von mehr als 12 Stunden ohne Jahresurlaub keine Seltenheit. Könnte das Phänomen Burn-out vielleicht etwas mit fehlender Sinnhaftigkeit im Leben der Betroffenen zu tun haben oder gar mit dem Verlust von Werten?
Mozart komponierte binnen kurzer Zeit drei große Opern und bekam keinen Burn-out. Paul Cézanne schuf unzählige eindrucksvolle Werke und erlitt keinen Burn-out. Jemand, der wirklich tief begeistert ist von dem, was er tut, kann gar nicht ausbrennen, im Gegenteil: Er bekommt Kraft aus seiner Tätigkeit, auch wenn er zwölf Stunden oder mehr darauf verwendet.
Seit Jahren darf ich beobachten, wie griechische Fischer, die morgens in aller Frühe aufs Meer fahren, vormittags zurückkommen und bis in den späten Abend in ihrer Taverne arbeiten. Dabei plaudern sie gut gelaunt mit ihren Gästen. Als ich dort von meinem gerade entstehenden Buch über Burn-out erzählte, fragten sie, was das sei – und schüttelten dann nur den Kopf. Sogar der ansässige Arzt, mit dem ich im Zuge meiner Recherchen sprach, kannte Burn-out und dessen Symptome bis vor Kurzem lediglich vom Hörensagen und aus einer Fachzeitschrift. Inzwischen, so sagte er mir, gebe es das Phänomen leider zunehmend auch in den großen Städten auf dem Festland; er bringe das mit dem enormen Druck in Verbindung, der seit der Krise auf dem Land liegt.
Ungezählte Menschen stecken dort tief im Tal der Depression. Es ist sogar so schlimm, dass viele Griechen keinen anderen Ausweg mehr wissen als den Freitod. Die Angst, als Bettler zu enden, lässt viele zum Strick greifen. Täglich nehmen sich dort zwei bis drei Menschen das Leben, 25–30 versuchen es. Die Psychologen der Athener Pantion Universität untersuchen die psychologischen Auswirkungen der Finanzkrise. Früher waren Suizide in der griechischen Gesellschaft sehr selten, zurzeit liegt die Rate bei 12 Prozent und steigt weiter an. Angesichts der großen Not ist sogar die Kirche von ihrer Regel abgewichen, Selbstmörder nicht zu bestatten.
Es ist still geworden in Griechenland, weil die Menschen erschöpft sind. Die Zeiten der Massenproteste sind vorbei. 2012 kam es noch zu Straßenschlachten vor dem Parlament. Anlass war der Selbstmord eines 77-jährigen Rentners, der sich aus Protest mitten auf dem Platz erschossen hatte. Laut seines Abschiedsbriefes wollte er damit ein Zeichen setzen und die Jugend auffordern, sich zu wehren. Der Kampf ums Überleben nimmt inzwischen den Menschen die Kraft zur Revolte. Das sind typische Merkmale eines Burn-out. Natürlich wird das nicht bekannt gemacht, da es die Erholung der Aktienmärkte stören würde. Die Troika zeigte sich bei ihrem letzten Besuch ›zufrieden‹. Womit? Damit, dass es in Griechenland wieder Malaria-Tote gibt? Oder mit der Verdreifachung der Selbstmordrate, die jahrelang die niedrigste in Europa war?
Читать дальше