Ich habe jetzt das Alter erreicht, in dem die meisten meiner ehemaligen Klassenkameraden in Pension gehen oder bereits gegangen sind. Wer mich fragt, wie lange ich noch arbeiten werde, erhält zur Antwort: Ich arbeite gar nicht. Solange ich reden kann, tue ich, was mir Spaß macht, denn ich empfinde meine Tätigkeiten nicht als Arbeit. Ich beziehe außerdem noch Sinn aus anderen Aktivitäten – Golfspielen, eine Pokerrunde mit Freunden oder regelmäßige Auszeiten auf Gran Canaria oder Korfu. Ich mag es auch, in einem Straßencafé zu sitzen, einfach in die Gegend zu schauen und Menschen zu beobachten. Selbst wenn ich nicht mehr zu reden imstande sein sollte, kann ich hoffentlich immer noch schreiben. Wahrscheinlich werde ich irgendwann weniger Seminare geben. Aber warum in den Ruhestand gehen? Ist das nicht ein schlimmes Wort: RUHESTAND? Ruhe sanft, kann man da nur sagen.
Hand aufs Herz: Arbeiten Sie? Gehen Sie einer Tätigkeit nach, die Sie Arbeit nennen? Empfinden Sie das, was Sie tun, als Arbeit, als ein Muss? Beantworten Sie sich diese Frage ehrlich! Einer meiner Lehrer meinte einmal etwas provokant, Urlaub sei nur etwas für Leute, die ihre Arbeit nicht mögen. Wann immer Sie sich beim Arbeiten ertappen, halten Sie inne und fragen Sie sich, ob es wirklich das ist, was Sie wollen. Entfernen Sie das Müssen aus Ihrem Leben und erlauben Sie sich, für das bezahlt zu werden, was Ihnen Freude macht.
Von diesem Moment an haben Sie nämlich bezahlten Urlaub. Das wird Sie erfüllen und erfolgreich machen, weil Sie das, was Sie gerne tun, selbstverständlich auch gut machen. Und für das, was man gut macht, wird man auch gut bezahlt. Etwas zu tun, was nicht seine Berufung ist, ist schädlich. Wenn Sie gefunden haben, was Sie lieben, brauchen Sie nie mehr zu arbeiten.
Ein ehemaliger Kollege aus der Zeit, in der ich in einer Klinik für Suchtkranke arbeitete, war Therapeut geworden, weil seine Eltern Arzt bzw. Psychotherapeut waren. Seine Liebe galt aber seit seiner Jugend der Arbeit mit Holz. In seiner Freizeit schreinerte er und stellte da schon wunderbare Dinge her. Eines Tages, er war bereits über 30, kündigte er und begann eine Schreinerlehre, die er erfolgreich als Meister abschloss. Heute stellt er edle handgefertigte Möbelstücke her, hat inzwischen sieben Angestellte und verdient das Vielfache seines früheren Gehalts. Ich habe ihn vor ein paar Jahren zufällig wieder getroffen und er machte einen sehr zufriedenen Eindruck.
Sagen Sie sich morgens, wenn Sie sich auf den Weg zur Arbeit machen, dass Sie jetzt Geld verdienen gehen? Dann machen Sie sich für einen Moment bewusst, dass in dem Wort verdienen, das Wort dienen steckt. Diener kommen in der Regel abends müde nach Hause und wollen nur noch ihre Ruhe haben; die man ihnen auch dann leider nur selten lässt.
Der Amerikaner sagt: I make money und der Engländer: I earn money. Welch ein enormer Unterschied zu sagen, dass man Geld macht, erntet oder gewinnt, wie es in Frankreich heißt: Gagner de l´argent.
Vor allem Männer, die ihren ganzen Sinn ausschließlich in der Arbeit gefunden haben, sterben kurze Zeit nach ihrer Pensionierung oder fallen in einen Zustand, der auch als Rentenschock bekannt ist. Bei Frauen, die ihren Lebensinhalt im Aufziehen der Kinder sahen, werden nach deren Auszug ähnliche Symptome beobachtet, die bis zur Depression führen können und als Empty-Nest-Syndrom bezeichnet werden. Wenn Sie nach der Berentung oder nach dem Flüggewerden der Kinder Glück haben, finden Sie eine Tätigkeit, aus der Sie Sinn und Freude schöpfen.
Vor Kurzem noch hörte ich einen Mann zu seinen Freunden sagen, er habe seit seiner Pensionierung mehr zu tun als vorher – und er machte bei dieser Bemerkung nicht nur einen durchaus fröhlichen Eindruck, sondern schien sogar stolz darauf zu sein. Ich kam leider nicht mehr dazu, ihn nach den Tätigkeiten seines Arbeitslebens zu fragen.
Jetzt höre ich so manchen Einspruch: Mir macht meine Arbeit aber Freude, ich finde durchaus den Sinn darin. Fragen Sie sich doch einmal, ob es wirklich die Arbeit ist, die Ihnen Sinn stiftet, oder eher das, was Sie dafür erhalten, zum Beispiel Geld, die Anerkennung anderer Menschen oder ein gewisser Lebensstandard. Wenn nicht – worin finden Sie Sinn? Robert Frost hat einmal gesagt: »Im Wald zwei Wege boten sich mir dar und ich wählte den, der weniger betreten war. Das veränderte mein Leben.«
Robin Williams forderte als Lehrer in dem Film Club der toten Dichter von seinen Schülern: »Gentlemen, ich möchte, dass Sie Ihren eigenen Rhythmus finden, Ihren eigenen Weg … gehen Sie, wohin Sie wollen und wie Sie wollen. Ob es stolz aussieht oder albern, ist egal.«
Um den Sinn in seinem Leben zu finden, muss man ein gewisses Maß an Reflexionsfähigkeit besitzen. Eine Fähigkeit, die in unseren Bildungseinrichtungen viel zu wenig gefördert wird, wohl weil die Menschen damit viel leichter freie Entscheidungen treffen könnten. Außerdem führt mangelnde Reflexionsfähigkeit dazu, dass die Menschen den Sinn in ihrer Tätigkeit nicht hinterfragen. Sie können weiter produzieren und bleiben an den Symptomen hängen, an denen noch jede Menge Geld verdient wird. Denn mit seinen Schlafstörungen, Kopfschmerzen oder Verdauungsproblemen geht man zum Arzt und verlangt von diesem, dass er einen wieder gesund mache. In seinem tiefsten Inneren weiß man, dass jede Veränderung einen Preis hat, manchmal einen hohen Preis – den man häufig nicht zu zahlen bereit ist.
Den Job einfach kündigen, wo das Haus noch nicht abbezahlt ist? Ein Sabbatjahr nehmen, wenn die Geier auf die Position scharf sind, die man sich mühsam erarbeitet hat? Noch nicht. Lieber noch etwas weitermachen wie bisher. Man schiebt die Verantwortung für seinen Zustand nach außen, statt die Lösung bei sich selbst zu suchen, dem einzig wahren Experten. Der Arzt verschreibt dann das Schmerzmittel, die Betablocker oder entfernt die Galle, die jetzt doch zu oft übergelaufen ist. Um das Warum kümmern muss man sich erst einmal nicht; schließlich hat man ja auch viel in die Krankenkasse eingezahlt. Es kann aber niemand jemand anderen gesund machen. Was der Arzt allerdings idealerweise machen kann: seinen Patienten dahingehend zu beeinflussen, dass dieser mit dem Verdrängen aufhört, um dann – eventuell auch gemeinsam mit ihm – die Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen gesund zu sein einfach interessanter ist, als sich ständig mit Symptomen herumzuschlagen. Auch wenn dies den Interessen einer einflussreichen Pharmaindustrie ganz und gar entgegenliefe.
Im Idealfall ermutigt der Arzt seinen Patienten, sein inneres Kraftpotenzial zu erschließen. Häufig tun das die Mediziner sogar schon – auf der körperlichen Ebene. Stellen Sie sich vor, Sie hätten sich eine Schnittwunde zugezogen. Es kommt ein Verband auf die Wunde, nach ein paar Tagen nehmen Sie den Verband ab und die Wunde ist geheilt. Der Arzt der Zukunft sollte ein Bewusstheitsmediziner und weiser Wegbegleiter sein. Schließlich käme doch auch keiner auf die absurde Idee, an seinem Auto die Öllampe auszubauen, wenn sie leuchtet, oder ein Pflaster darüber zu kleben, damit er sie nicht mehr sieht.
Der erste Schritt zur Heilung ist das Erkennen und Akzeptieren, dass man selbst der Schöpfer ist – und etwas verändern möchte. Das ist das Entscheidende. Hat man dann den richtigen Weg gefunden, so reicht ein kleiner Anschub, um das Ganze ins Rollen zu bringen. Häufig genügen schon kleine Veränderungen, die dann große nach sich ziehen (fragen Sie einmal einen Homöopathen). Um einen Staudamm zum Einsturz zu bringen, bedarf es keiner Sprengladung, die eventuell noch mehr von dem zerstören würde, das erhalten bleiben kann. Es reicht aus, an der richtigen Stelle ein paar kleine Steine zu entfernen. Dazu braucht es allerdings manchmal Mut.
Das englische Wort courage für Mut ist sehr aufschlussreich. Es leitet sich von der lateinischen Wurzel cor ab, was Herz bedeutet. Mutig sein bedeutet also, vom Herzen her zu leben, was wiederum bedeuten kann, ins Unbekannte zu gehen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und für die Zukunft offen zu sein. Aus dem Herzen zu leben heißt, einen Sinn zu entdecken. Etwas gegen die Stimme seines Herzens zu tun ist Selbstverleugnung und verursacht meist Stress.
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