2.2Interaktion als Kern sozialer Dienstleistungen
Im Zentrum der von Organisationen der Sozialen Arbeit zu gestaltenden sozialen Dienstleistungen stehen Interaktionen: Die Organisationen sind darauf ausgerichtet, das Personal und die Leistungsadressaten so in ankoppelungsfähige Relationen zu bringen, dass zeitlich begrenzte koproduktive Arbeitsbündnisse entstehen, aufgrund derer die Leistungsadressaten in die Lage versetzt werden und sich in die Lage versetzen können, die ihrer je individuellen Lage entsprechenden Lösungs- und Bewältigungsstrategien zu finden und diese zur Verbesserung ihrer Lebenssituation zu realisieren.
2.2.1Charakteristika sozialer Dienstleistungen
Soziale Dienstleistungen weisen einige Charakteristika auf, die in den Handlungsprogrammen der Organisationen zu verarbeiten sind und somit managementrelevante Rahmenbedingungen markieren (vgl. Arnold 2014a; Cremer, Goldschmidt u. Höfer 2013, S. 5 ff.):
•Immaterialität/Intangibilität
•Unteilbarkeit und Nichtspeicherbarkeit
•Einbeziehung des Nachfragers/Nutzers in die Dienstleistungserstellung
•Individualität
Immaterialität/Intangibilität
Die Kernleistung bei Dienstleistungen, das zwischen den Personen ablaufende eigentliche Interaktionsgeschehen, ist weder sichtbar noch greifbar. Zwar werden auch Sachleistungen als Voraussetzung zur Erbringung von Dienstleistungen einbezogen, jedoch ist das zentrale Element der Dienstleistung nicht gegenständlich. Das hat zur Folge, dass der Nachfrager sich von der angebotenen Leistung und deren Nutzen zwar eine Vorstellung macht, die Leistung jedoch vor ihrer Erstellung nicht genau kennt. Der Nutzer kann sie, anders als bei Sachgütern, nicht im Vorhinein prüfen oder von anderen prüfen lassen. Auch wenn man sich z. B. vor der Kontaktaufnahme zu einer Beratungsstelle von anderen Personen berichten lässt, die diese Beratungsstelle aufgesucht haben, weiß man nicht, ob die Erfahrungen der anderen Personen bei der eigenen, spezifischen Problems ebenfalls zutreffen werden. Bei sozialen Dienstleistungen handelt es sich um Vertrauensgüter: Es bedarf einer gewissen Zuversicht, die jeweilige Leistung in Anspruch nehmen zu wollen.
Unteilbarkeit und Nichtspeicherbarkeit
Bei sozialen Dienstleistungen fallen Produktion und Konsum zusammen, was traditionell als »Uno-actu-Prinzip« genannt wird. »Der Zeitpunkt der Leistungserstellung und der Leistungsabgabe sind bei Dienstleistungen identisch, Produktion und Konsumption erfolgen somit synchron.« (Cremer, Goldschmidt u. Höfer 2013, S. 6.) Für die meisten personenbezogenen Dienstleistungen ist die Präsenz der Kunden unerlässlich. Damit verbunden ist in der Regel die Standortgebundenheit der Dienstleistung: Bis auf wenige Ausnahmen, bei denen die Distanz technisch überbrückt wird (insbesondere: Onlineberatung), ist eine Anwesenheit von Leistungserbringer und Leistungsnutzer an einem Ort erforderlich. Soziale Dienstleister müssen daher Maßnahmen ergreifen, um die räumliche Distanz zwischen dem Nachfrager und dem Anbieter zu überwinden.
Einbeziehung des Nachfragers/Nutzers in die Dienstleistungserstellung
In der Sozialen Arbeit sind die Kunden bzw. Nutzer Mitproduzenten der Dienstleistung; die Erstellung der Dienstleistung erfolgt koproduktiv. Beteiligen die Nutzer sich nicht in einem gewissen Maß aktiv, kann die Leistungserbringung nicht gelingen; sie läuft ins Leere. Eine reine Anwesenheit des Klienten und sonstige Passivität bei einer Beratung oder Therapie führt weder zu einem Beratungsprozess noch zu einem Erfolg; nur bei aktiver Beteiligung des Leistungsadressaten kommt die Dienstleistung tatsächlich zustande. Es geht also nicht nur um das Herstellen einer gewissen räumlichen Nähe, sondern insbesondere um die Überwindung einer sozialen Distanz – dies zumindest so weit, dass anknüpfungsfähige Kommunikationen entstehen, die das notwendige Maß an Koproduktionsbereitschaft aufseiten des Nutzers entstehen lassen. Da die Bereitschaft und die Fähigkeit des Leistungsadressaten zur Koproduktion nicht ohne Weiteres vorausgesetzt werden kann, bedarf es besonderer Bemühungen zur Herstellung einer Bereitschaft und Aktivierung einer koproduktiven Haltung aufseiten der »Leistungsempfänger«.
Individualität
Soziale Dienstleistungen sind nur begrenzt standardisierbar. Sie müssen variabel sein für die unterschiedlichen Bedürfnisse der Nachfrager und weisen daher in ihrer Ausführung individuelle Qualitäten auf. Eine »Leistung von der Stange« ist nicht möglich bzw. wenn eine solche Orientierung in einer Organisation Platz greift, wäre dies mit erheblichen Qualitätsdefiziten verbunden. Damit geht eine Unsicherheit der Nachfrager einher, ob bzw. in welcher Weise die angebotene Dienstleistung ihren Erwartungen entspricht, was wiederum auf den Faktor »Vertrauensgut« verweist. Aus der Individualität sozialer Dienstleistungen resultiert die Erfordernis, eine flexible Leistungserstellung zu ermöglichen und die weitgehende Dysfunktionalität von Standardprogrammen zu berücksichtigen.
2.2.2Folgen für das Steuerungshandeln
Verdeutlicht man sich diese Charakteristika von sozialen Dienstleistungen und deren Folgen für die Interaktionsgestaltung, so erscheinen zwei Folgen für das Steuerungshandeln in Organisationen der Sozialen Arbeit zentral:
•der hohe Grad von Unsicherheit in den Anforderungen, der in den Handlungsprogrammen der Organisation zu verarbeiten ist, und – damit einhergehend –
•die Dominanz von Zweckprogrammen , die jedoch nur wenig Unsicherheit zu absorbieren vermögen.
Das Phänomen der Unsicherheit sowohl in der Interpretation der Anforderungen als auch in der Konzipierung von Bearbeitungsperspektiven resultiert vor allem daraus, dass bei sozialen Dienstleistungen mit »Personen« gearbeitet werden muss. Personen sind gemäß Klatetzki (2010, S. 13)
»zu Selbstaktivierung bzw. Selbstreferenz fähig. Damit ist gemeint, dass Individuen auf der Grundlage ihrer jeweils subjektiven Situationsinterpretation handeln und folglich in der Lage sind, Interventionen zu neutralisieren. Kurz gesagt: Personen mit einem freien Willen lassen sich nicht kausal beeinflussen.«
Es bleibt also unsicher, wie bestimmte methodische Impulse aus Handlungsprogrammen der Organisation von den Personen verarbeitet werden und ob ähnliche Impulsgebungen überhaupt bei verschiedenen Personen ähnlich ankoppelungsfähig sind und zu bedeutsamen Kommunikationen im Sinne der Programmintentionen werden. Dabei sind nicht nur die kommunikative Aufnahme und Verarbeitung der Interventionen unsicher: Bereits die Interpretation der Ausgangs- oder Problemsituation, auf die mit Interventionen geantwortet werden soll, verbleibt in der Regel bei der Hypothese. Denn was eine Ausgangssituation für welche beteiligte Person bedeutet, kann je nach Interpretation verschiedener Beteiligter und je nach »praktischer Ideologie« (zu diesem Begriff siehe Klatetzki 1998, S. 63 ff.; kurz erläutert bei Merchel 2015a, S. 121 f.), mit der Fachkräfte an die Situation herangehen und diese sich interpretativ für ihr Handeln verfügbar machen, vielfältige Varianten aufweisen.
Durch Unsicherheit geprägte Anforderungen an die Leistungserstellung stellen die Organisation vor ein zentrales Problem: Sie muss trotz der Unsicherheiten eine einigermaßen verlässliche und mit präsentierbaren positiven Wirkungen verbundene Leistungserstellung gewährleisten, und zwar als eine Organisationsleistung, welche die Umwelt und die Leistungsadressaten relativ unabhängig von personenbezogenen Zufälligkeiten und Eigenheiten des Personals erwarten können. Über Handlungsprogramme (Konzepte, methodisch strukturierte Vorgehensweisen, Verhaltensvorschriften, Standardisierungen etc., aber auch informell wirkende Regeln und Gewohnheiten, Routinen) versucht die Organisation, Unsicherheit zu absorbieren und die Leistungserstellung stärker kalkulierbar zu machen. Konditionalprogramme, bei denen ein kausaler Bezug zwischen handlungsauslösenden Ereignissen und bestimmten Folgehandlungen hergestellt wird, sind in der Regel untauglich, weil die »Auslösebedingungen des Handelns in der Vergangenheit (liegen): Für relativ bekannte Bedingungen liegen relativ erprobte Routinen für Entscheidungen vor« (Lambers 2015, S. 33). Somit verbleiben Zweckprogramme: Verfahrensweisen, bei denen ein Entscheidungsrahmen mit entsprechenden Handlungsoptionen für jeweils spezifisch zu definierende Zwecke benannt und als Orientierungskorridor gesetzt wird. Aber solche Zweckprogramme vermögen nur begrenzt Unsicherheit zu absorbieren, denn »bei ihnen liegen die Auslösebedingungen des Handelns in der Zukunft« (ebd.): Man entscheidet über den wahrscheinlich angemessenen Zweck und über darauf ausgerichtete Handlungsweisen, mit denen vermutlich oder wahrscheinlich der angezielte Zweck auch im spezifischen Einzelfall realisiert werden kann.
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