Mich dagegen zog es ins Hotel, und ich machte mir noch ein paar Gedanken über Talente, Biss und Co. Vielleicht lag es an den geschlossenen Heurigen und an der Tatsache, dass das nächste Schnellrestaurant fußläufig weit entfernt lag, ich dies also nur mit einer gewissen Entschlossenheit erreichen würde. Jedenfalls kam mir folgende Sätze von Ray Kroc, dem Gründer des McDonald’s-Imperiums, dazu in den Sinn: „Nichts in der Welt kann Beharrlichkeit ersetzen. Talent allein genügt nicht; nichts ist häufiger als erfolglose Menschen mit großen Talenten. Ebenso wenig Genie; verkannte Genies sind geradezu sprichwörtlich. Ebenso wenig kann es Bildung sein; die Welt ist voll von gebildeten Versagern. Beharrlichkeit und Entschlossenheit allein vermögen alles.“
Es gab noch viel zu diskutieren und zu tun. Doch eins war klar: Wenn man das große Glück hat, mit dem entsprechenden Talent zur Welt zu kommen, und dies auch noch für sich in jungen Jahren zu entdecken, ist eine große Karriere mit den nötigen Unterstützern möglich. Mit Kreativität und Durchsetzungskraft – und in diesem Fall am liebsten mit frisch eingefetteten, glänzenden, edlen Fußballschuhen in Schwarz mit weißen Streifen.
KAPITEL 4:
LINKES PRATZERL, DURCHSCHNITT UND EIN DYNAMISCHES SELBSTBILD
ADMIRA WACKER 1974–1983
Jeder Mensch verfügt über Talente – und manche sogar über eine ganz besondere, einmalige Veranlagung, einem Alleinstellungsmerkmal. Stellen Sie sich vor, Sie hätten genau so ein Talent. Und einen Förderer und Forderer in Ihrer Nähe, der genau das in Ihnen sehr schnell erkennt. An anderer Stelle haben wir schon darauf verwiesen, dass es eine Gnade sein kann, seine ganz besondere Stärke möglichst früh wahrzunehmen, genauso wie die Möglichkeiten und den Freiraum, eben dieses ständig weiterzuentwickeln.
Bei Andi Herzog war es das „linke Pratzerl“, wie er es im Wiener Dialekt gerne nennt, im ursprünglichen Sinne eigentlich die linke „Pfote“, im Ruhrgebietsfußball auch die linke „Klebe“ genannt. Auf den Punkt gebracht: sein linker Fuß. Dazu der Vater, ebenfalls Fußballprofi, für damalige Verhältnisse gut vernetzt und vor allem mit reichlich Fußball-Know-how ausgestattet: Er hatte das Spiel nicht nur verstanden, sondern vor allem in allen Facetten gelebt. Zudem war da noch Andis riesiger Spielplatz, der seinesgleichen suchte.
Die Südstadt ist ja ein wunderschönes Trainingszentrum. Und ich bin auf allen Plätzen und in der ganzen Umgebung herumgelaufen. So bin ich schon als kleiner Bub mit Fußball infiziert worden. (Andreas Herzog)
Optimale Bedingungen also, um eine einzigartige Karriere zu starten. Hier hatte er alle Freiräume und konnte die Grundlagen – neudeutsch Basics („I red schon wie der Kleine.“) – trainieren. Eben Außenrist, Innenrist, Ballannahme, mit dem nächsten Kontakt gleich weiterspielen, Tempo gehen, Dribbling, am Gegenspieler vorbei – den Ball aus allen Positionen spielen, automatisieren, üben, üben, üben. Und vor allem: eigene Wege und Lösungen finden.
Und beste Voraussetzungen, um das erwähnte linke Pratzerl zu entwickeln. Überhaupt ist es ja so eine Sache mit den Linksfüßern. So sind sie einerseits im Fußball rar gesät. Hätten Sie beispielsweise gedacht, dass in Andi Herzogs Bundesligazeit nur 72 der 400 Bundesligaspieler den linken Fuß zum Schießen nutzten? Und Werder Bremen gleich als Abstiegskandidat galt, als Herzog einmal am Fuß operiert werden musste? Andererseits gelten Linksfüßer häufig als die Regisseure des Platzes, denn sie fallen in der Regel aus der Norm – durch besonderes Ballgefühl, Intuition und Erfahrungswissen.
„Sie sind extravagant und machen extravagante Dinge“, meinte einst Felix Magath, übrigens ebenfalls einer von ihnen und Schütze des legendären 1:0-Endergebnisses im Landesmeisterfinale des HSV (Trainer Ernst Happel) gegen Juventus Turin im Jahr 1983 – ebenfalls mit links. Technik, Bewegungsablauf, Wahrnehmung – geniale Linksfüßer haben einfach ein unbeschreibliches Timing und Gefühl für den rechten Moment und für ihr Gegenüber, meist Rechtsfüßer, sind einfach schwer zu durchschauen.
Natürlich profitieren heute Spieler, die von Geburt an einen starken, linken Fuß haben, weil es nur wenige von ihnen gibt. Es wurde ihnen sozusagen in die Wiege gelegt …
Doch so einmalig es ist, wie Herzogs linkes Pratzerl ihm zu einer internationalen Karriere weit über Österreichs Grenzen hinaus verholfen hat, so sensibel reagiert er auch, wenn es um das Thema „Beidfüßigkeit“ oder „Allroundkönner“ geht – und schon sind wir mittendrin in einer Diskussion um neuzeitliche Trainingsmethoden, Talentförderung und Gleichmacherei.
Ich hatte immer einen starken linken Fuß. Das war meine Waffe. Hätte ich als Jugendlicher meinen rechten Fuß trainiert und den linken vernachlässigt, wäre ich beidseitig Durchschnitt geworden – und hätte mich meiner größten Waffe beraubt. (Andreas Herzog)
Gerne zitiert Herzog hier Toni Schumacher in Sachen „Rundum-Könner“ („Bravo, Toni“ – O-Ton Herzog), der unlängst im „Kicker“ davor warnte, dass Deutschland, einstmals Land der Torhüter, nur noch Allroundkönner ausbildet: „Irgendwann wird so viel Wert auf Fußarbeit und Spielaufbau gelegt, dass man auch einen Feldspieler ins Tors stellen kann, der ein bisschen Talent dazu hat. Aber wo bleiben Dominanz, Mut, Reflexe, das Eins-gegen-eins? Wo die Fähigkeit, seine Vorderleute zu dirigieren?“
„Zu viel Durchschnitt durch zu viel Gleichmacherei“, so Herzog. Dabei beweisen die Großen ihres Faches genauso wie alle anderen Ausnahmekönner auf dem Platz, wie wichtig es ist, über eine einzigartige „Waffe“, eine ganz besondere, individuelle Stärke zu verfügen, um sich damit von der Masse abheben zu können – und diese ständig zu schärfen. In der Pädagogik spricht man von „Stärken stärken“. Doch auf dem Platz wie auch in der Schule wird selten differenziert und noch seltener individuell gearbeitet. Wie auch, bei großen Trainingsgruppen und noch größeren Schulklassen. „Normalerweise brauchst du mindestens zwei Trainer pro Team, einen für die Defensive und einen für die Offensive. Doch das ist in der Realität meist nicht machbar – oder den Traditionalisten des Fußballsports zu modern“, meint Herzog.
Zudem soll man in der Regel das lernen, was man nicht kann, um das ein bisschen besser zu können. Also eher „Schwächen schwächen“ statt „Stärken stärken“. Doch das wiederum geht auf Kosten der individuellen Marke, des eigentlichen Talents. Da ist sich Andreas Herzog zu 100 Prozent mit einem anderen Linksfuß und Ausnahmetalent, nämlich Arjen Robben, einig – und der augenscheinlichen Tatsache, dass ein Superfuß zur Weltklasse reicht.
Ich bin damit nicht so einverstanden, dass die Jungs zur Beidfüßigkeit gedrillt werden; man kann den schwachen Fuß doch nur ein bisschen verbessern. Wenn du dauernd beide Füße schulst und damit auf einer Skala von eins bis zehn eine Sieben oder Acht hast – oder auf dem einen Fuß eine Zehn und auf dem anderen eine Fünf, ist mir das zweite Modell lieber. (Andreas Herzog)
Um bei Arjen Robbens Bild zu bleiben: Die Realität findet sich meist im ersten Modell wieder – der täglichen Auseinandersetzung mit den eigenen Schwächen. Und ob gewollt oder nicht, man orientiert sich auf diese Weise am Durchschnitt. Denn wird man täglich dazu angehalten, sich mit seinen Defiziten auseinanderzusetzen, statt die kostbaren Zeit mit den Stärken zu verbringen, reiht man sich automatisch ins Mittelmaß ein. Eben Durchschnitt, statt besondere Leistungen.
Wie gut, dass Herzog in seiner Kindheit und Jugend auf ein offeneres Umfeld gestoßen ist, eines, in dem er sich ausprobieren konnte. Sich einfach entwickelte, wie es ihm guttat. Eben einfach spielen und eigene Wege der Ballannahme finden, ohne ständige Vorgaben von Trainern oder Vertretern von Akademien, die häufig viel zu früh Systeme einpauken, statt den Freiraum zur Selbstentwicklung zu bieten.
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