Festhalten möchte ich, dass auch im Westen in Sachen Pressefreiheit nicht alles gut ist, was woanders schlecht ist. Es gibt keinen Grund, aus der Warte unseres noch einigermaßen intakten medialen Ökosystems hochmütig zu sein. Es gibt aber jeden Grund, unsere freie Nachrichtenkultur zu verteidigen und zu verbessern. Es gibt jeden Anlass, sich gegen die Unterdrückung der Pressefreiheit einzusetzen, genauso wie gegen die Verfolgung von Journalistinnen und Journalisten – wo auch immer dies geschieht.
Es wird Zeit, das Internet anzusprechen, sofern man darüber überhaupt noch im Singular sprechen kann. Kieron O’Haraund Wendy Hallvon der Universität Southampton jedenfalls beschreiben aus geopolitischer Sicht vier verschiedene Ausprägungen: Da ist das ursprüngliche Internet des Silicon Valley, verbunden mit emanzipatorischen Erwartungen, verknüpft mit Hoffnungen auf freien, vielfältigen Informationsaustausch und Demokratisierung. Daneben gibt es ein bürgerliches, europäisches Modell, in dem Lügen und Hate Speech unterbunden werden sollen, in dem Datenschutz im Zweifel wichtiger ist als Innovation. Nummer drei und vier sind für O’Hara und Hall das an Eigentum und Gewinn ausgerichtete Internetkonzept des US-Establishments sowie Chinas autoritär-paternalistisch genutztes Netz. Dazu tritt aus Sicht der beiden noch »Moscow’s Spoiler Model«, in dem die russische Regierung digitale Kanäle für Desinformation nutzt ( O’HARA/ HALL2021). Zu dieser groben Orientierung hinzufügen möchte ich den Hinweis auf das Deep Web, insbesondere auf das Darknet, in dem fernab des allgemeinen Radars so ziemlich alles geschieht.
Hoffnungen wie zu den Anfängen des Internets galten Jahre später auch den aufkommenden sozialen Medien und den Smartphones, den allgegenwärtigen Kommunikationszentralen. Die Proteste und Aufstände des Arabischen Frühlings ab dem Dezember 2010 wurden oft ›Revolutionen 2.0‹ genannt. Doch auch dieser Optimismus ist abgeebbt. Wir haben mittlerweile einen besseren Blick dafür, wie die Nutzung und Kontrolle der sozialen Medien staatlichen Unterdrückungsapparaten in die Hände spielen kann. In einem Artikel für Foreign Affairs aus dem Frühjahr 2020 mit dem Titel The Digital Dictators wird das so zusammengefasst:
»It’s now clear […] that technology does not necessarily favor those seeking to make their voices heard or stand up to repressive regimes. Faced with growing pressure and mounting fear of their own people, authoritarian regimes are evolving. They are embracing technology to refashion authoritarianism for the modern age. Led by China, today’s digital autocracies are using technology – the Internet, social media, AI – to supercharge long-standing authoritarian survival tactics. They are harnessing a new arsenal of digital tools to counteract what has become the most significant threat to the typical authoritarian regime today: the physical, human force of mass antigovernment protests. As a result, digital autocracies have grown far more durable than their pre-tech predecessors and their less technologically savvy peers. In contrast to what technology optimists envisioned at the dawn of the millennium, autocracies are benefiting from the Internet and other new technologies, not falling victim to them« (KENDALL-TAYLOR/FRANTZ/WRIGHT 2020).
Die Hoffnung war groß, dass die Welt durch das Internet zu einem frei und gut informierten globalen Dorf werden könnte. Inzwischen geht die Entwicklung zumindest in Teilen in Richtung eines bewachten und kontrollierten Potemkinschen Dorfs.
Gefahr droht nicht nur vom Staat
Gefahr für die Freiheit der Information droht nicht nur von staatlicher Seite, so verständlich die Sensibilität in dieser Hinsicht als Reflex auf die Diktaturerfahrungen des 20. Jahrhunderts auch ist. Wirtschaftliche Interessen wirken ebenfalls massiv auf die Medien ein. Das ist in der kleinsten Gemeinde so und reicht bis zu den multinationalen Konzernen, die über Grenzen hinweg auf die Information Einfluss nehmen. Die politische Kontrolle dieser Interessen ist durch Deregulierung und Globalisierung noch schwieriger geworden. Die journalistische Kontrolle ist oft sogar unmöglich.
Vor eine neue und gewaltige Herausforderung stellen uns im 21. Jahrhundert die großen Technologiekonzerne, die Machthaber der digitalen Welt. Auch sie sind Profiteure von Deregulierung und Globalisierung. Sie neigen zur Monopolbildung, verfügen über wichtige Daten der meisten von uns und steuern über Algorithmen unser Informationsverhalten. Noch mehr: Die Plattformen der Digitalkonzerne sind die neuen Marktplätze und Fußgängerzonen als Orte der Öffentlichkeit und des Austauschs. Die Konzerne bestimmen dort die Regeln. Sie entscheiden, wer dabei sein darf und wer nicht. Sie bestimmen, was sagbar ist und was nicht.
Überwachungskapitalismus und ›Wild Wild West‹
Bei weitem nicht die einzige Warnung, doch sicher eine der kraftvollsten, kommt von der Harvard-Professorin Shoshana Zuboff. Ihr Buch The Age of Surveillance Capitalism (ZUBOFF 2019) liest sich wie ein Weckruf. Ihre Sorge ist, dass der digitale Kapitalismus die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts zum Schaden der Einzelnen und der Demokratie verändern wird, aus reiner Gewinnsucht. Aus Zuboffs Sicht werden die heutigen Menschen von Google und Co. im Überwachungskapitalismus genauso überrollt wie die Ureinwohner Amerikas von den spanischen Eroberern im 16. Jahrhundert (ZUBOFF 2019: 175ff.). Insofern findet sie den Begriff »Digital Natives« »tragisch-ironisch« (NAUGHTON 2019).
Tim Cole bemüht ein anderes Bild aus Amerika: Für ihn ist das WWW derzeit das Wild Wild Web und ähnelt dem Wilden Westen des 19. Jahrhunderts. Damals konnten Räuber und Gesetzlose erst einmal mehr oder weniger ungehindert tun und lassen, was sie wollten. Heute sind es für Cole die digitalen Monopolisten, die von ihrem Recht der Stärkeren Gebrauch machen. Sein Plädoyer lautet, auch im Internet Regeln durchzusetzen, wie seinerzeit im amerikanischen Westen, um insbesondere der Ausbeutung der Daten ein Ende zu setzen (COLE 2018).
Es gibt in der Moderne unterschiedliche Sichtweisen auf Freiheitsbedrohungen. Viele wissen das schon aus dem Englisch-Unterricht, zumindest wenn sie Bekanntschaft gemacht haben mit Aldous Huxley und George Orwell. Die beiden haben mit Brave New World (HUXLEY 1932) und 1984 (ORWELL 1949) zwei für das vergangene Jahrhundert prägende Dystopien geschrieben. 1984 ist zu einem Kurzbegriff für den totalitären Staat geworden, der die Menschen mit Zwang und Überwachung kontrolliert, auch in der Kommunikation. Brave New World zeichnet, wieder vereinfacht gesagt, zwar ebenfalls das Bild einer Diktatur, die die Menschen aber eher durch Bedürfnisbefriedigung gefügig hält: Anstatt von Panzern werden Konsum und Drogen eingesetzt.
In einem Brief an George Orwell bestand Aldous Huxley im Oktober 1949 darauf, dass seine Prophezeiung die wahrscheinlichere sei. Die Herrschenden würden eines Tages erkennen, dass sie keine Schlagstöcke oder Gefängnisse mehr brauchten. Vielmehr würden sie Wege finden, den Menschen eine freiwillige Sklaverei angenehm erscheinen zu lassen, schrieb Huxley an Orwell (HUXLEY 1949). Diesen Gedanken hat der US-Medienwissenschaftler Neil Postman in Amusing Ourselves to Death (1985) schon im Vorwort aufgegriffen. Kaum war das ominöse Orwell-Jahr 1984 vorbei, notierte er:
»Orwell warns that we will be overcome by an externally imposed oppression. But in Huxley’s vision, no Big Brother is required to deprive people of their autonomy, maturity and history. As he saw it, people will come to love their oppression, to adore the technologies that undo their capacities to think. What Orwell feared were those who would ban books. What Huxley feared was that there would be no reason to ban a book, for there would be no one who wanted to read one. Orwell feared those who would deprive us of information. Huxley feared those who would give us so much that we would be reduced to passivity and egoism. Orwell feared that the truth would be concealed from us. Huxley feared the truth would be drowned in a sea of irrelevance. […] As Huxley remarked in Brave New World Revisited, the civil libertarians and rationalists who are ever on the alert to oppose tyranny ›failed to take into account man’s almost infinite appetite for distractions‹« (POSTMAN 1985).
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