In meiner Generation verbindet sich die Idee des Journalismus mit Bildern von Bob Woodward und Carl Bernstein. Viele haben die beiden vor Augen, wie sie aufklärerisch, mutig und stets das Gute im Sinn den Watergate-Skandal aufdecken, wie sie 1974 letztlich US-Präsident Richard Nixon zum Rücktritt zwingen. Ehrlicherweise sind es vielleicht noch mehr die Bilder von Robert Redfordund Dustin Hoffman, den Darstellern der Reporter im Klassiker All the President’s Men . Die Verfilmung aus dem Jahr 1976 hat den Beruf des damals noch meist männlichen Journalisten popularisiert und für viele Jahre als Klischee geprägt. Watergate und der Film haben vor bald 50 Jahren auch zu einem Run auf die Ausbildungswege hin zu den Medien beigetragen.
Mit dem Regelfall des Journalismus hat Watergate allerdings wenig zu tun. Über die Jahrhunderte stand in den Medien nicht die Kontrolle der Macht im Vordergrund, sondern die Unterhaltung. Es ging dabei oft um gute Stimmung und politische Ruhe in der Bevölkerung. Die ungebrochene Wucht des Unterhaltungsaspekts können wir an den mit ihm verbundenen Auflagen und Reichweiten in der Medienlandschaft unserer Tage ablesen. Der Hauptjob der Nachrichten, sofern es sie gab, war Information und Desinformation im Interesse der Machthabenden. Das reichte bis zur Mittäterschaft in Diktaturen.
Doch auch jenseits solcher Extreme lebten Informationsmedien meist in einem prekären Geflecht von Abhängigkeiten von und Rücksichtnahmen auf politische, wirtschaftliche und andere Interessen. Stellen wir uns einen Augenblick vor, es gäbe eine Liste mit den Namen aller Frauen und Männer, die jemals in der Geschichte ihr Geld mit der Suche, der Zusammenstellung und Verbreitung von Nachrichten verdient haben. Es wäre eine enorm lange Liste von den Anfängen der professionellen Information bis zu meinen Kolleginnen und Kollegen, die gerade jetzt die DEUTSCHLANDFUNK-Nachrichten verantworten, während Sie diese Zeilen lesen. Die Gesamtübersicht würde deutlich machen, wie sehr ein Journalismus im Sinne von Woodward und Bernstein, im Sinne von Guardian, Tagesschau oder Süddeutscher Zeitung die Ausnahme war.
Die Ausnahme ist, muss man sagen. Denn die Pressefreiheit mag auf dem Papier fast überall garantiert sein, so wie die Welt auch voller Regierungssysteme ist, die sich ›demokratisch‹ nennen. Und doch haben staatlich kontrollierte und weitere, engen Interessen verpflichtete Medien nach wie vor weltweit viel mehr Personal und Ressourcen als die anderen Redaktionen. Als die ›eigentlichen Redaktionen‹, wie ich sie nennen möchte.
Systemstabilisatoren und Systemkritik
Journalistinnen und Reporter, die nach unserem Verständnis nicht frei arbeiten, sehen sich selbst nicht unbedingt als Agitatoren und Propagandistinnen, die den Beruf falsch ausüben. Es wird viele Fälle überzeugter Systemstabilisatoren geben. In manchen Gesellschaften ist das die offizielle Aufgabe des Journalismus. Erklärt und begründet wird dies als patriotische Pflicht, Teil eines revolutionären Weges oder eines ideologischen Konzeptes und fast immer als Dienst am Volk.
Mit dieser Ausrichtung wird das Handwerk heute in Diktaturen unterrichtet, so wie in den 1930er-Jahren schon in Benito Mussolinis Scuola fascista di giornalismo , die Joseph Goebbels zur Gründung der Reichspresseschule inspirierte. Viele in den Medien autoritär regierter Staaten Beschäftigte werden die gewohnten Arbeitsumstände wohl auch einfach für normal halten oder sich den Zwängen beugen.
Weltweit praktizieren in solchen Ländern immer wieder Journalistinnen und Journalisten kleinere Formen des kalkulierten Widerstandes. Andere gehen noch einen Schritt weiter: Sie kämpfen für eine wahrhaftige Berichterstattung. Sie legen sich mit der politischen und wirtschaftlichen Macht, mit dem Militär oder mit mafiösen Strukturen an – und manchmal sogar mit allen diesen Kräften gleichzeitig. Diese Menschen leben gefährlich und können oft nur auf externe Unterstützung von Reporter ohne Grenzen, Amnesty International und andere Organisationen zählen – wenn überhaupt. Wenn unser Beruf Helden kennt, dann sind es diese Frauen und Männer.
Vielfältige Nachrichtenkulturen
Die Nachrichtenkulturen sind vielschichtig wie die politischen Systeme. Die Medienwissenschaft arbeitet mit verschiedenen Modellen, in denen die dem Informationsjournalismus zugeschriebenen Aufgaben variieren – von der Unterstützung der Regierung, etwa in China, bis zur Kontrolle der Macht, so wie wir es im Westen grundsätzlich verstehen. Roger Blum beschreibt dies in seinem Mediensystemvergleich schon im Titel als den Unterschied zwischen den Lautsprechern und den Widersprechern der Herrschenden (BLUM 2014). Blum macht auch einiges an Schattierungen zwischen diesen Polen aus. In Russland oder in der Türkei etwa sieht er »kontrolliert halboffene Systeme« (BLUM 2014: 118ff.).
Man muss aber nicht erst nach China gehen, nach Nordkorea oder in den Irak, um sich in einer spürbar anderen journalistischen Welt wiederzufinden. In Großbritannien erleben wir ein atemberaubendes Nebeneinander: Da ist die BBC, vermutlich der an Tradition und Innovation reichste öffentlich-rechtliche Rundfunksender. Da ist aber auch eine hochgradig polarisierte und konfliktorientierte Presselandschaft, in der die Zeitungen des Unternehmers Rupert Murdoch maßgeblich den Ausgang mehrerer Wahlen in den vergangenen Jahrzehnten entschieden haben – und zwar mal für die Konservativen, mal für Labour. Sie haben auch das Brexit-Referendum mitentschieden. In Frankreich übt die Regierung seit jeher Einfluss auf die elektronischen Medien aus, in die Presse haben sich Industrielle verschiedener Branchen eingekauft.
Italien ist die Heimat von Silvio Berlusconi, dem Meister der Verflechtung wirtschaftlicher, medialer und politischer Interessen. Schon vor ihm teilten sich die großen Parteien die Pfründe beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk RAI, ganz im Sinne der ›Partitocrazia‹. Das gesamte italienische Mediensystem kategorisiert Blum als »freiheitlich-klientelistisch« (BLUM 2014: 164ff.). Er meint damit unter anderem den Vorrang von Gruppeninteressen gegenüber dem Allgemeinen, die große Bedeutung von Netzwerken und Schutzbeziehungen, innerhalb derer auch Journalisten agieren.
Kein Anlass zu westlichem Hochmut
In Deutschland hat es bei Meinungsvielfalt und Wettbewerb zuletzt Einbußen durch Abbau und Zusammenlegung von Redaktionen gegeben. Im Frühjahr 2021 stufte Reporter ohne Grenzen dann auch die Bewertung der Lage der Pressefreiheit in Deutschland von ›gut‹ auf nur noch ›zufriedenstellend‹ zurück und sprach von einem ›Alarmsignal‹. Begründet wurde dies mit den vielen Übergriffen auf Medienvertreter bei den Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen (REPORTER OHNE GRENZEN 2021). Schon 2020 hatte die Organisation in der Nahaufnahme Deutschland beklagt, »Gewalt, verbale Angriffe und Einschüchterungsversuche gegen Journalistinnen und Journalisten bleiben erschreckend häufig.« Weiter hieß es damals:
»Immer wieder gibt es Gesetzesinitiativen, die den Informanten- und Quellenschutz bedrohen. Journalistinnen und Journalisten sollen vermehrt durch Unterlassungserklärungen eingeschüchtert und von Veröffentlichungen abgehalten werden« (REPORTER OHNE GRENZEN 2020).
Auch in Deutschland prägen Unternehmen wie Bertelsmann oder Axel Springer einen wesentlichen Teil des Medienmarkts. Die Geschichte des öffentlich-rechtlichen Teils wiederum ist auch hier nicht frei von Einflussversuchen. Es gibt eine lebendige gesellschaftliche Diskussion darüber, ob die Aufsichtsgremien die gesellschaftlichen Gruppen widerspiegeln oder doch eher den Einfluss politischer Parteien sichern. Das Bundesverfassungsgericht hat 2014 verlangt, die Macht »staatlicher und staatsnaher Mitglieder« in den Gremien müsse stärker begrenzt werden (BVERFG 2014). Den Anstoß zu dem Verfahren hatte die Nichtverlängerung des Vertrages von ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender im Jahr 2009 gegeben.
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