Hin und wieder übe ich die eine oder andere Form von Kritik und spreche mich für Veränderungen aus. Das richtet sich weder gegen den Nachrichtenjournalismus noch gegen die vielen Kolleginnen und Kollegen, die ihn täglich gestalten und an seiner Weiterentwicklung arbeiten. Die Kritik ist vielmehr ein konstruktiver Teil dieser gemeinsamen Arbeit, an der ich schon lange mitwirken darf. Das ist der Zusammenhang, aus dem einzelne meiner Argumente weder gerückt noch gerissen werden sollten. Die Beobachtungen und Anmerkungen in diesem Buch sind zudem immer die meinen und nicht Standpunkte des Senders, für den ich sehr gerne arbeite.
Mit Betrachtungen über den Journalismus und sein Personal allein ist es nicht getan. Denn bei den Medien wird vieles abgeladen, was in die Zuständigkeit anderer gesellschaftlicher Bereiche gehört. Für wesentliche Defizite der demokratischen Öffentlichkeit sind Politik und Wirtschaft verantwortlich, Verbände, Nichtregierungsorganisationen und andere mehr. Mich besorgt unter anderem das ebenso weitverbreitete wie missbräuchliche Unterlaufen eines funktionierenden Informationsjournalismus durch PR und Marketing.
In der Verantwortung stehen aber letztlich wir alle, die wir Medien nutzen, die wir Bürgerinnen und Bürger sind. Wir alle gehören zur Nachrichtenkultur und entscheiden gemeinsam über die Zukunft der Information. Lassen Sie uns die Nachrichten retten. Es lohnt sich – und es wird uns nur gemeinsam gelingen.
Was erwartet Sie nun? Das Buch ist eine Art Reise durch die Welt der Nachrichten. Im ersten Teil besichtigen wir den freien, westlichen Nachrichtenjournalismus und dann die Probleme, mit denen er von innen und von außen konfrontiert wird. Nach einem Abzweig in den redaktionellen Alltag schauen wir uns im zweiten Teil das Selbstverständnis der Nachrichten und einige handwerkliche Punkte genauer an. Dabei werbe ich für eine Neuorientierung unter dem Sammelbegriff ›Realistische Nachrichten‹. Zum Schluss geht es um den Beitrag von Politik und Gesellschaft für einen demokratie- und gemeinwohlorientierten Informationsjournalismus.
TEIL EINS: DIE KRISE DER NACHRICHTEN
KAPITEL 1
FREIE NACHRICHTEN:
EINE HISTORISCHE AUSNAHME
Den Anfang macht ein genauerer Blick auf das, für dessen Rettung ich werbe. Ich meine eine Nachrichtenkultur, die den Einzelnen und der Öffentlichkeit den informationellen Rohstoff für demokratische Abwägungen und Entscheidungen verlässlich liefert, die sich den fundamentalen Prinzipien des Grundgesetzes und anderen Normen wie den Menschenrechten verpflichtet fühlt und deren grundsätzlich große Offenheit und Neutralität genau dort ihre wehrhafte Grenze finden, wo diese Werte in Gefahr sind.
Ich meine einen Nachrichtenjournalismus, der seinerseits frei arbeiten kann, in Deutschland zum Beispiel abgesichert durch Artikel fünf des Grundgesetzes und eine funktionierende Justiz. Ich meine Nachrichten, die derart geschützt die Arbeit der demokratischen Institutionen und aller anderen gesellschaftlichen Akteure kontrollieren und kritisieren können. Und ich meine Nachrichten, die sich ihrer Verantwortung zur Herstellung einer demokratischen Öffentlichkeit bewusst sind, die eine funktionierende Fehlerkultur haben und ihre Arbeit ebenso regelmäßig wie transparent überprüfen.
Manche denken, dass eine solche Nachrichtenkultur alltäglich und ungefährdet ist. Wir werden uns das noch genauer ansehen. Historisch betrachtet ist sie jedenfalls die absolute Ausnahme. Frei verfügbare und zuverlässige Information, auf deren Grundlage die Menschen über die Geschicke ihrer Gesellschaft entscheiden können, das war in der Geschichte so wahrscheinlich wie sechs Richtige im Lotto. Meist waren die Nachrichten nämlich Instrument oder Teil der Macht. Wo wüsste man das besser als in Deutschland? Noch vor achtzig Jahren standen die Medien hier unter Kontrolle des Staates. Noch mehr, sie halfen bei der Absicherung einer Diktatur. Durch die Verbreitung von Lügen und Hass wurden Massenmedien zu Massenvernichtungswaffen.
Eine weitere Lehre nicht nur aus der NS-Zeit ist die besondere Rolle der Nachrichten im Journalismus. In einer Diktatur oder in einem autoritären Regime hat es niemand leicht, der von der Meinungsfreiheit Gebrauch machen will. Die Nachrichten aber sind das erste Opfer. So hielten es auch die Nationalsozialisten: Sie unterwanderten und radikalisierten schon 1931 den Reichsverband Deutscher Rundfunkteilnehmer, der sich danach für mehr ›rechte‹ und nationale Inhalte im angeblich links dominierten ›Systemrundfunk‹ stark machte. Eine zentrale Parole lautete »Brecht den roten Rundfunkterror.« In NS-Zeitungen wurde das verbunden mit antisemitischer Hetze, mit Kritik an den Kosten des Rundfunks und Forderungen wie »Fort mit marxistischer Zersetzungspropaganda und verlogenem Literaten-Geseire« (HEIDELBERGER BEOBACHTER 1931).
Bereits 1932 und damit noch deutlich vor der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler sicherten sich die Nationalsozialisten den Einfluss auf die Drahtlose Dienst AG, die erste deutsche Hörfunknachrichtenredaktion. Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels nannte das Radio das »allermodernste und allerwichtigste Massenbeeinflussungsinstrument« (GOEBBELS 1933). Sein Mann für den Rundfunk, Hans Fritzsche, sprach später vom »modernsten und schnellsten Nachrichtenmittel« und von einer »Waffe« (FRITZSCHE 1937).
Die Nationalsozialisten verschafften sich auch sonst die Kontrolle über den Informationsjournalismus, sobald sie es konnten. Der Grund ist leicht erklärt und gilt auch für andere Diktaturen: Wenn den Menschen vertrauenswürdige Nachrichten fehlen, wenn sie der Propaganda ausgesetzt sind, wenn sie nicht mehr wissen, was wahr oder falsch ist, dann ist das autoritäre Ziel erreicht. Dann kann der Staat in anderen Bereichen kalkulierte Freiheiten zulassen, etwa ein gewisses Maß an Kunst und Kommentierung erlauben, als Ventil im Inland oder als Feigenblatt für die Welt.
Kaum Note ›gut‹ für die Pressefreiheit
Solche Überlegungen klingen heute für manche wie eine anstrengende und überholte Moralpredigt aus längst vergangenen, dunklen Tagen. Diesen Eindruck gewinne ich seit Jahren im Dialog mit einigen unserer Hörer und Nutzerinnen. Ich sehe das anders. Wir alle sind in unserer Zeit und in unserer Lebenserfahrung befangen. Das schränkt die Vorstellungskraft ein und manchmal auch die Abwehrkraft. Die meisten von uns hatten schon einmal von der ›Spanischen Grippe‹ gehört. Doch mein Gott, das war vor einhundert Jahren. Dann kam Corona und traf viele Gesellschaften einigermaßen unvorbereitet.
Um die Bedrohung freier Nachrichten zu verstehen, muss niemand einhundert Jahre zurückschauen. Es reicht ein offener Blick in die Welt um uns herum. Ein nützlicher Indikator ist der Index, den die Organisation Reporter ohne Grenzen jährlich veröffentlicht. Es ist eine Art TÜV für die Pressefreiheit, der Zensur, Gewalt gegen Journalistinnen und Journalisten und andere einschränkende Faktoren berücksichtigt. Dass es in Nordkorea oder im Iran auch für Medien düster aussieht, darauf kämen wir alle auch ohne diesen Index. Aber wer weiß schon, wie selten freie Nachrichtenkulturen heutzutage generell sind, weit über die üblichen Verdächtigen unter den Staaten hinaus?
Gerade mal für zwölf der 180 bewerteten Länder schätzen die Reporter ohne Grenzen die Lage im Frühjahr 2021 als gut ein (REPORTER OHNE GRENZEN 2021). Ob uns allen klar ist, wie dünn das Eis ist, auf dem wir uns bewegen? Ob wir es schaffen, aufmerksam und vorsichtig zu bleiben? Garantiert ist das nicht. Denn auch bei der Virengefahr hätten wir nicht nur aus der Geschichte gewarnt sein können. Ärzte in Bergamo sprachen es Ende März 2020 klar aus: »Il coronavirus è l’Ebola dei ricchi«. Corona ist das Ebola der Reichen, so zitiert sie die Nachrichtenagentur ANSA (2020). Andere Teile der Welt haben deutlich mehr Erfahrung mit Pandemien – und mit der Unterdrückung der Medien. Wir wären gut beraten, in beiderlei Hinsicht Anteil am Schicksal der anderen zu nehmen und uns auch bei der Pressefreiheit nicht zu sicher zu fühlen.
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