Foto: © Paolo Colaiocco / Courtesy of Rosso 35
DIE AUTORIN
Andrea Marcolongo,geboren 1987 in Crema/Italien, hat Klassische Philologie studiert. Bereits ihr erstes Buch Warum Altgriechisch genial ist wurde zum internationalen Bestseller mit über 300.000 verkauften Exemplaren. Sie schreibt regelmäßig für „La Stampa“ und „La Repubblica“ und lebt derzeit in Sarajevo.
Andrea Marcolongo
DAS MEER, DIE LIEBE, DER MUT AUFZUBRECHEN
Was uns die Argonautensage erzählt
Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl
Heldentum Heldentum Für alle, die das Unglück ablehnen Undden Mut haben, zum ersten Mal Oder noch einmal in See zu stechen . Für alle, die den Mut haben , sich zum ersten Mal oder noch einmal zu verlieben . Sie sind-Helden . Für Sarajevo , das nicht am Meer liegt , für mich jedoch ein Hafen ist .
Das Meer, eine uralte Sprache
Mir kann das nicht passieren
Sei bereit
Zeit auszulaufen
Sich über Wasser halten
Wind und andere Zwischenfälle
Zur See fahren
Verzauberung
Wie man loslässt
Heldentum
Zärtlichkeit
Antikes Familienlexikon
Das Goldene Vlies, unser Ziel
Das Paradox der Einsamkeit
Unser Boot
Nostos oder die Heimkehr
Im Falle eines Schiffbruchs
Ein neuer Hafen
Epilog: Die Schiffe hinter uns verbrennen
How to Abandon Ship
Bibliografie
Für alle, die das Unglück ablehnen
Undden Mut haben, zum ersten Mal
Oder noch einmal in See zu stechen .
Für alle, die den Mut haben ,
sich zum ersten Mal oder
noch einmal zu verlieben . Sie sind-Helden .
Für Sarajevo ,
das nicht am Meer liegt ,
für mich jedoch ein Hafen ist .
Οὐδεὶς οὕτω κακὸς ὅντινα οὐκ ἂν αὐτὸς ὁ Ἔρως ἔνθεον ποιήσειε πρὸς ἀρετήν, ὥστε ὅμοιον εἶναι τῷ ἀρίστῳ φύσει. Καὶ ἀτεχνῶς, ὃ ἔφη Ὅμηρος, μένος ἐμπνεῦσαι ἐνίοις τῶν ἡρώων τὸν θεόν, τοῦτο ὁ Ἔρως τοῖς ἐρῶσι παρέχει γιγνόμενον παρ᾽ αὑτοῦ.
Denn was den Menschen, welcher sein Leben schön und würdig zubringen will, durch sein ganzes Leben leiten muss, das vermögen ihm weder Verwandtschaft noch Ehrenstellen, noch Reichtum, noch irgendetwas anderes in dem Maße zu gewähren wie die Liebe. […] kurz, was Homer sagt, dass ein Gott diesem oder jenem Helden Mut eingehaucht habe, das gewährt Eros den Liebenden allen.
PLATON, Das Gastmahl
Warum treibt es den gesunden Menschen mit gesunder Seele nach dem Meere? Warum empfindet man auf der ersten Seereise eine geheimnisvolle Erschütterung, wenn man von dem Schiff aus das Land nicht mehr sieht?
HERMAN MELVILLE, Moby Dick
Übersetzt von WILHELM STRÜVER
Das Meer, eine uralte Sprache
Das Meer spricht zu uns in einer uralten Sprache.
Seine Worte sind eine zu entziffernde Landkarte.
Es hat kein Ende, sondern unendlich viele Anfänge, die sich Horizonte nennen.
Es kennt die Kunst der Verzauberung, des Staunens, der Angst, der Ungeduld und des Wartens.
Es verschluckt Schiffe, bietet Gaben an, überrascht mit Häfen, die auf Karten, die von anderen – nicht von uns – gezeichnet wurden, nicht aufscheinen.
Seine Wellen sind sanft und seine Stürme grausam; sein Wasser ist salzig wie der Schweiß der Mühsal, wie Lachtränen, wie Tränen der Trauer.
Das Schiff ist wunderschön und auf dem Rumpf steht in weißer Farbe dein Name. Auf dieser Reise bist du einfach du.
Bald wirst du deinen Hafen erreichen, er ist der Grund, warum du die lange Reise auf dich genommen hast. Bei der Ankunft erwartet dich ein neues Leben, ein Leben, das du dir immer gewünscht hast, bevor du die Herausforderung der Abreise auf dich genommen hast.
Ein Leben lang hattest du Angst zu fragen, was dir bevorsteht.
Aus diesem Grund bist du aufgebrochen: Um nicht länger inopportun , fehl am Platz zu sein, beziehungsweise ohne einen Hafen, einen portus , in dem du wirklich du sein kannst. Und um die, die du liebst, und das, woran du glaubst, nicht zu importunieren – nicht in Verlegenheit zu bringen, nicht zu verwirren. Um nicht länger entwurzelt herumzuirren, sondern um ein Land, einen Ort zu finden, wo deine Gedanken Wurzeln schlagen können.
„Du musst durchhalten.“ Alle legen dir die falsche Kraft der Resignation nahe, während du dir doch nur erlauben wolltest, schwach zu sein, nicht länger mögen zu müssen, was du nicht magst, was dich nicht glücklich macht.
„Du verlangst zu viel vom Leben“ , sagen alle immer wieder zu dir, während du doch nur verlangst, als das ernst genommen zu werden, was du wirklich bist.
Da hast du eine Entscheidung getroffen, du hast das Richtige vom Leben verlangt und bist aufgebrochen.
Die Kraft zur Entscheidung rührt oft daher, dass man nicht weiterleben kann, ohne diese Entscheidung getroffen zu haben.
Unsagbar sind die Farben des Meeres, denn unbeschreiblich ist auch das Licht, das es tagsüber entzündet – transparent, blau, glasklar, perlfarben –, sowie das Licht, das es nachts zum Verschwinden bringt – schwarz, weinfarben, mondhell.
Das Meer kennt das Gesetz des Gleichgewichts zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, das dir so oft entgeht und dich in Erwartung dessen, was du – noch – nicht kennst, zermürbt. Und was du noch nicht bist.
Im Italienischen ist das Meer ein Vater, il mare .
Im Französischen eine Mutter, la mer .
In den slawischen Sprachen ist es sächlich, more .
Alle Frauen, alle Männer, alle Gedanken bewohnen unsere Häfen, die, die am weitesten entfernt sind, und die, die uns am nächsten sind. Das Meer ruft und wir müssen uns in dem Fundus der Rollen, die wir jeden Tag gleichzeitig spielen, immer wieder neu einkleiden – als ungeduldige Männer, geliebte Kinder, besorgte Mütter, treue Freunde, frisch Verliebte, rebellische Jugendliche, weise Frauen, freche Kinder, als die Fantasien der anderen.
Unsere Ichs sind gleichzeitig aufgespannt wie ein Segel: Ich, io im Italienischen, wie das Suffix -io am Ende der Worte, die eine lange andauernde, noch nicht beendete Aktion beschreiben. Worte, die unseren Zustand beschreiben, den wir selbst nicht kennen, wenn wir unentschlossen etwas tun, was noch kein Ende gefunden hat – mormorio (Gemurmel), ronzio (Gesumme), logorio (Zerrüttung), brontolio (Murren).
Proust hatte unrecht, auf Reisen gibt es keine verlorene Zeit . Es gibt nur eine wiedergefundene Zeit , denn wir entdecken jeden Tag aufs Neue, was wir sind – nicht das, was wir waren oder was wir sein werden.
Die Wirklichkeit, die sich entfaltet und anknüpft und mit ihrer Veränderung auch uns verändert.
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