Die Einsicht in den figuralen CharakterAllegorie u. Figuration der Komödie bietet zwar gewiß keine allgemein gültige Verfahrensweise für die Deutung jeder strittigen Stelle, allein es lassen sich doch aus ihr einige Grundsätze für die Deutung herleiten. Man darf sicher sein, daß jede in dem Gedicht erscheinende geschichtliche oder mythologische Gestalt nur etwas bedeuten kann, was mit dem, was DanteDante von ihrer geschichtlichen oder mythischen Existenz wußte, in engstem Zusammenhang steht, und zwar in dem Zusammenhang von Erfüllung und Figur; man wird sich immer davor hüten müssen, ihr die irdisch-geschichtliche Existenz ganz abzusprechen und ihr eine nur begrifflich-allegorische Deutung zu geben. Das gilt insbesondere für Beatrice. Nachdem im 19. Jahrhundert die romantisch-realistische Auffassung den Menschen Beatrice allzusehr betont hatte und geneigt war, aus der Vita Nova etwas wie einen sentimentalen Roman zu machen, hat nun ein Rückschlag eingesetzt, und man bemüht sich, immer genauere theologische Begriffe zu finden, in denen sie ganz aufgehen soll. Allein auch hier ist kein Entweder-Oder. Der Litteralsinn oder die historische Wirklichkeit einer Gestalt steht bei DanteDante nicht im Widerspruch zu ihrer tieferen Bedeutung, sondern figuriert sie; die historische Wirklichkeit wird durch die tiefere Bedeutung nicht aufgehoben, sondern bestätigt und erfüllt. Die Beatrice der Vita Nova ist eine irdische Gestalt; wirklich erschien sie DanteDante, wirklich grüßte sie ihn, wirklich verweigerte sie ihm später den Gruß, verspottete ihn, klagte um eine tote Freundin und um den Vater, und wirklich starb sie. Freilich kann es sich bei dieser Wirklichkeit nur um eine Erlebniswirklichkeit DantesDante handeln – denn ein Dichter formt und verwandelt das ihm Geschehende in seinem Bewußtsein, und nur von dem, was in diesem Bewußtsein lebt, nicht von einer äußeren Wirklichkeit, ist auszugehen. Und ferner ist zu berücksichtigen, daß auch die irdische Beatrice für DanteDante vom ersten Tage ihres Erscheinens an ein vom Himmel gesandtes Wunder ist, eine Inkarnation göttlicher Wahrheit. Das Wirkliche ihrer irdischen Gestalt ist also nicht, wie bei VergilVergil oder Cato, bestimmten Daten einer geschichtlichen Überlieferung, sondern der eigenen Erfahrung entnommen, und diese Erfahrung zeigte ihm die irdische Beatrice als Wunder.50 Aber eine Inkarnation, ein Wunder sind wirklich geschehende Dinge; Wunder geschehen nur auf Erden, und Inkarnation ist Fleisch. Bei den modernen Forschern hat die Fremdartigkeit der mittelalterlichen Wirklichkeitsanschauung dahin geführt, daß sie Figuration und AllegorieFiguration u. AllegorieAllegorie u. Figuration nicht von einander scheiden und zumeist nur die letztere verstehen.51 Selbst ein so kluger theologischer Interpret wie MandonnetMandonnet, P. (a. a. O. S. 218/219) kennt nur zwei Möglichkeiten: entweder ist Beatrice eine bloße Allegorie (und dies ist seine Meinung), oder aber sie ist la petite Bice Portinari , worüber er sich lustig macht. Ganz abgesehen von der Verkennung des Wesens der dichterischen Wirklichkeit, die in solchem Urteil liegt, ist es vor allem erstaunlich, daß er zwischen Wirklichkeit und Bedeutsamkeit eine so tiefe Kluft sieht. Ist denn die terrena Jerusalem darum keine geschichtliche Wirklichkeit, weil sie figura aeternae Jerusalem ist?
In der Vita Nova ist also Beatrice ein lebender Mensch aus DantesDante Erfahrungswirklichkeit – wie sie ja auch in der Komödie kein intellectus separatus , kein Engel, sondern ein seliger Mensch ist, dem am Jüngsten Tag sein Leib auferstehen wird. Übrigens gibt es keinen theologischen Schulbegriff, der sie wirklich ganz umfaßte; manche Ereignisse der Vita Nova passen in keine Allegorie, und für die Komödie kommt noch die Schwierigkeit hinzu, sie gegen manche andere Gestalten des Paradiso , etwa die prüfenden Apostel oder den heiligen Bernhard, genau abzugrenzen. Das Besondere ihres Verhältnisses zu DanteDante läßt sich auf diese Art schon gar nicht befriedigend erfassen. Die älteren Erklärer haben in Beatrice meist die Theologie gesehen, die neueren sind viel genauer vorgegangen; allein dies führt zu Überspitzung und zu Irrtümern: selbst MandonnetMandonnet, P., der den sehr weiten, aus dem Gegensatz zu VergilVergil geschöpften Begriff ordre surnaturel auf sie anwendet, wird dann allzu spitzfindig in den Unterabteilungen, begeht Irrtümer52 und preßt die Begriffe. Was DanteDante ihr für eine Rolle zuschreibt, wird aus ihren Handlungen und den Bezeichnungen ihrer Person ganz deutlich. Sie ist Figur oder Inkarnation der Offenbarung ( Inf. 2, 76 sola per cui l’umana specie eccede ogni contento da quel ciel che ha minor li cerchi sui. – Purg. 6, 45 che lume fia tra il vero e l’intelletto ), welche die göttliche Gnade aus Liebe ( Inf. 2, 72) dem Menschen sendet, ihn zu retten, und die ihm Führerin zur visio Dei wird. Daß es sich eben um eine Inkarnation der göttlichen Offenbarung handelt, nicht um die Offenbarung schlechthin, das vergißt Mandonnet zu sagen, obgleich er die entsprechenden Stellen aus der Vita Nova und aus Thomas zitiert, dabei auch die oben erwähnte Anrede o Donna di virtù, sola per cui usw. Die «übernatürliche Ordnung» als solche kann man so nicht anreden, sondern nur die inkarnierte Offenbarung derselben, also denjenigen Teil des göttlichen Heilsplans, welcher eben das Wunder ist, durch das die Menschen über alle anderen irdischen Geschöpfe erhoben sind. Beatrice ist Inkarnation, ist figura oder idolo Christi (ihre Augen spiegeln seine Doppelnatur, Purg. 31, 126) und also zugleich auch ein Mensch. Ihr Menschentum ist mit solchen Erklärungen natürlich keineswegs erschöpft; sie steht zu DanteDante in einer Beziehung, die sich durch dogmatische Betrachtungen nicht völlig ausdrücken läßt. Unsere Ausführungen sollen nur zeigen, daß die stets nützliche und unentbehrliche theologische Deutung uns durchaus nicht zwingt, die geschichtliche Wirklichkeit Beatrices aufzugeben – im Gegenteil.
Damit schließen wir für dies Mal unsere Untersuchung über figura . Ihre Absicht war zu zeigen, wie ein Wort aus seiner Bedeutungsentwicklung heraus in eine weltgeschichtliche Lage hineinwachsen kann und wie sich alsdann daraus Strukturen entwickeln, die für viele Jahrhunderte wirksam sind. Jene weltgeschichtliche Lage, die PaulusPaulus (Apostel) zur Heidenmission trieb, hat die FiguraldeutungFiguraldeutung ausgebildet und sie zu der Wirksamkeit vorbereitet, die sie in der Spätantike und im Mittelalter entfaltet.
Figurative texts illustrating certain passages of Dante’s Commedia (1946)
In an earlier article1 I tried to analyse the structure of the figurative or typological interpretationFiguraldeutung of the Holy Scriptures and to prove its influence during the first centuries of Christianity and the Middle Ages upon the conception of all earthly events; and especially I endeavoured to show by some examples important for the general composition of the Commedia (CatoCato v. Utica, VergilVergil, Beatrice) how deeply DanteDante was involved in typological ideas. Here I intend to discuss some more particular passages, the understanding of which maybe advanced in the light of figurative texts. The figurative interpretation of the Bible created a world of interrelations, a world in which mediaeval theologians moved quite naturally and which was familiar even to laymen through sermons, religious representations and art; from this material a poet like Bernard de ClairvauxBernhard v. Clairvaux produced his most beautiful creations. During the fourteenth century this world began to decay; the eighteenth century destroyed it almost completely, and for us it has vanished; even distinguished modern theologians are not always able to perceive and to understand figurative allusions.
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