Der geschichtliche VergilVergil ist, in DantesDante Augen, zugleich Dichter und Führer. Er ist als Dichter ein Führer, weil in seinem Gedicht die politische Ordnung, die DanteDante als die vorbildliche, als die terrena Jerusalem 47 ansieht, der allgemeine Frieden unter dem römischen Kaisertum, in der Unterweltsfahrt des gerechten Aeneas prophezeit und verherrlicht wird; weil darin die Gründung Roms, des vorbestimmten Sitzes von weltlicher und geistiger Gewalt, im Hinblick auf seine zukünftige Mission besungen wird. Er ist vor allem auch als Dichter ein Führer deshalb, weil alle späteren großen Dichter von seinem Werke entzündet und inspiriert wurden; das hebt DanteDante nicht nur für sich selbst hervor, sondern führt noch einen zweiten Dichter ein, StatiusStatius, um dasselbe auf die eindringlichste Weise zu bekunden: auch in der Begegnung mit SordelloSordello und vielleicht auch in dem vielumstrittenen Vers über Guido CavalcantiCavalcanti, G. ( Inf. 10, 63) klingt das gleiche Motiv an. Sodann ist VergilVergil als Dichter ein Führer, weil er über seine zeitliche Prophezeiung hinaus auch die ewige überzeitliche Ordnung, das Erscheinen Christi, das mit der Erneuerung der zeitlichen Welt zusammenfiel, in der vierten Ekloge verkündet hat – freilich ohne die Bedeutung seiner eigenen Worte zu ahnen, aber doch so, daß die Nachfolgenden sich an diesem Lichte entzünden konnten. Er war ferner als Dichter ein Führer, weil er das Totenreich beschrieben hatte – also ein Führer ins Totenreich, der den Weg kennt. Aber nicht nur als Dichter, auch als Römer und als Mensch war er zur Führung bestimmt; nicht nur die schöne Rede, nicht nur hohe Weisheit stehen ihm zu Gebot, sondern eben die Eigenschaften, die zur Führung befähigen, die seinen Helden Aeneas und Rom überhaupt auszeichnen: iustitia iustitia und pietas pietas . Die Fülle der irdischen Vollkommenheit, die zur Führung befähigt und bestimmt, bis dicht an die Grenze der Einsicht in die göttliche und ewige Vollkommenheit, ist für DanteDante schon im geschichtlichen VergilVergil verkörpert, und dieser ist ihm eine figura für die nun im Jenseits erfüllte Gestalt des Dichter-Propheten als Führer. Der geschichtliche VergilVergil wird «erfüllt» von dem Bewohner des limbo , dem Genossen der großen antiken Dichter, der auf Beatrices Wunsch DantesDante Führung übernimmt. So wie er einst, als Römer und Dichter, Aeneas nach göttlichem Ratschluß in die Unterwelt steigen ließ, damit er das Schicksal der römischen Welt erfahre, so wie sein Werk zum Führer der Nachlebenden wurde, so wird er nun von den himmlischen Gewalten zu einer nicht minder bedeutenden Führung aufgerufen: denn es ist nicht zu bezweifeln, daß DanteDante sich selbst in einer Mission sieht, die ebenso bedeutend ist wie die des Aeneas: er ist berufen, der Welt, die aus den Fugen ist, die rechte Ordnung zu verkünden, die ihm auf seinem Wege offenbart wird. Und VergilVergil ist berufen, ihm die wahre irdische Ordnung, deren Gesetze im Jenseits vollstreckt, deren Wesen dort erfüllt ist, zu zeigen und zu deuten – zugleich mit der Richtung auf ihr Ziel, die himmlische Gemeinschaft der Glückseligen, die er in seiner Dichtung geahnt hat – aber doch nicht bis in das Innere des Gottesreiches hinein, denn der Sinn seiner Ahnung ist ihm während seines irdischen Lebens nicht offenbart worden, und er ist ohne solche Erleuchtung als ein Ungläubiger gestorben; und so will Gott nicht, daß man durch ihn in sein Reich kommt; nur bis an die Schwelle des Reiches, nur bis zu jener Grenze, die seine gerechte und edle Dichtung zu erkennen vermochte, darf er DanteDante führen. «Du zuerst», so sagt StatiusStatius zu VergilVergil, «hast mir den Weg zum Parnaß und zu seinen Quellen gezeigt; und dann hast du mich, nächst Gott, erleuchtet. Du hast getan wie einer, der durch die Nacht geht und das Licht hinter sich trägt; sich selbst hilft er nicht, aber er belehrt die Nachkommenden. Durch dich ward ich Dichter, durch dich Christ.»48 Und so, wie er als irdische Gestalt und Wirkung StatiusStatius zum Heil geführt hat, so führt er nun, als erfüllte Figur, DanteDante: denn auch DanteDante hat von ihm den schönen Stil der Dichtung empfangen, durch ihn wird er vom ewigen Verderben gerettet und auf den Weg des Heils geleitet; und wie er einst StatiusStatius erleuchtete, ohne selbst das Licht, das er trägt und verkündet, zu sehen, so führt er jetzt DanteDante bis an die Schwelle des Lichts, von dem er nun zwar weiß, das er aber selbst nicht schauen darf.
VergilVergil ist also nicht die AllegorieAllegorie einer Eigenschaft oder Tugend oder Fähigkeit oder Kraft oder auch einer geschichtlichen Institution. Er ist weder die Vernunft noch die Dichtung noch das Kaisertum. Er ist VergilVergil selbst. Aber er ist es freilich nicht in der Weise, wie spätere Dichter eine menschliche Gestalt in ihrer innergeschichtlichen Verstrickung wiederzugeben versucht haben: etwa wie ShakespeareShakespeare, W. den CaesarCaesar oder SchillerSchiller, F. den WallensteinWallenstein, A. v.. Diese zeigen ihre geschichtlichen Gestalten in ihrem irdischen Leben selbst, sie lassen vor unseren Augen eine bedeutende Epoche jenes Lebens wiedererstehen und versuchen aus ihm selbst seinen Sinn zu deuten. Für DanteDante ist der Sinn eines jeden Lebens gedeutet, es hat seinen Ort in der providentiellen Weltgeschichte, die ihm in der Vision der Komödie gedeutet wird, nachdem sie in ihren allgemeinen Zügen schon in der jedem Christen zuteilgewordenen Offenbarung enthalten ist. So ist VergilVergil in der Komödie zwar der geschichtliche VergilVergil selbst, aber er ist es auch wieder nicht mehr; denn der geschichtliche ist nur figura der erfüllten Wahrheit, die das Gedicht offenbart, und diese Erfüllung ist mehr, ist wirklicher, ist bedeutender als die figura. Ganz anders als bei den modernen Dichtern ist bei DanteDante die Gestalt um so wirklicher, je vollständiger sie gedeutet, je genauer sie in den ewigen Heilsplan eingeordnet ist. Und ganz anders als bei den antiken Dichtern der Unterwelt, die das irdische Leben als wirkliches, das unterirdische als schattenhaftes gaben, ist bei ihm das Jenseits die echte Wirklichkeit, das Diesseits nur umbra futurorum – freilich aber ist die umbra die Praefiguration der jenseitigen Wirklichkeit und muß in ihr sich vollständig wiederfinden.
Denn was hier von CatoCato v. Utica und VergilVergil gesagt wurde, gilt von der Komödie im ganzen. Sie ist ganz und gar auf figuraler Anschauung gegründet. In meiner Untersuchung über Dante Dante als Dichter der irdischen Welt (1929) habe ich zu zeigen versucht, daß DanteDante es in der Komödie unternommen hat, «die gesamte irdisch-historische Welt … als schon dem endgültigen Urteil Gottes unterworfen und somit an ihren eigentlichen, ihr nach dem göttlichen Urteil zukommenden Platz gestellt, als schon gerichtet vorzustellen, und zwar so, daß er die einzelnen Gestalten … nicht etwa ihres irdischen Charakters beraubt oder ihn abschwächt, sondern indem er die äußerste Steigerung ihres individuellen irdisch-historischen Wesens festhält und sie mit dem Endgeschick identifiziert» (S. 108). Für diese Auffassung, die schon bei HegelHegel, G. W. F. zu finden ist und auf der meine Interpretation der Komödie beruhte, fehlte mir damals die genaue geschichtliche Grundlage; sie ist in den einleitenden Kapiteln des Buches mehr geahnt als erkannt. Diese Grundlage glaube ich jetzt gefunden zu haben; es ist eben die FiguraldeutungFiguraldeutung der Wirklichkeit, die im europäischen Mittelalter, wenn auch in ständigem Kampf gegen reine spiritualistischeSpiritualismus und neuplatonischePlaton TendenzenNeuplatonismus, die Anschauung beherrschte: daß das irdische Leben zwar durchaus wirklich sei, von der Wirklichkeit jenes Fleisches, in das der Logos einging, aber in all seiner Wirklichkeit doch nur umbra und figura des Eigentlichen, Zukünftigen, Endgültigen und Wahren, welches, die Figur enthüllend und bewahrend, die wahre Wirklichkeit enthalten werde. Auf diese Art wird jedes irdische Geschehen nicht als eine endgültige, sich selbst genügende Wirklichkeit angesehen, auch nicht als Glied in einer Entwicklungskette, wo aus einem Ereignis oder aus dem Zusammenwirken mehrerer immer wieder neue Ereignisse entspringen, sondern es wird zunächst im unmittelbaren vertikalen Zusammenhang mit einer göttlichen Ordnung betrachtet, in der es enthalten ist und die selbst eines künftigen Tages geschehende Wirklichkeit sein wird; und somit ist das irdische Ereignis Realprophetie oder figura eines Teiles zukünftig geschehender, unmittelbar vollendet göttlicher Wirklichkeit. Diese aber ist nicht nur zukünftig, sondern in Gottes Auge und im Jenseits jederzeit gegenwärtig, so daß dort jederzeit, oder auch zeitlos, die enthüllte und wahre Wirklichkeit vorhanden ist. DantesDante Werk ist der Versuch einer zugleich dichterischen und systematischen Erfassung der gesamten Weltwirklichkeit in solchem Lichte. Dem in der irdischen Verwirrung vom Untergang Bedrohten, so ist der Rahmen der Vision, kommt die Gnade der himmlischen Kräfte zu Hilfe. Von früher Jugend an war er besonderer Gnade teilhaftig, weil er zu besonderer Aufgabe bestimmt war; früh schon hatte er in einem lebenden Wesen, in Beatrice – und hier spielen, wie so oft, Figuralstruktur und NeuplatonismusNeuplatonismusPlaton ineinander – die inkarnierte Offenbarung sehen dürfen, die ihn, wenn auch verhüllt, schon als Lebende durch den Gruß ihrer Augen und ihres Mundes und als Sterbende auf eine nicht ausgesprochene, geheimnisvolle Weise auszeichnete.49 Die Gestorbene und nun Selige, die für ihn die inkarnierte Offenbarung war, findet für den Verirrten die einzige Rettung, die es noch gibt; sie ist mittelbar, und im Paradiese unmittelbar, seine Führerin, die ihm die enthüllte Ordnung, die Wahrheit der irdischen Figuren zeigt. Was er in den drei Reichen sieht und lernt, ist wahre, konkrete Wirklichkeit, und zwar eben von der Art, daß darin die irdische figura enthalten und gedeutet ist; indem er, noch als Lebender, die erfüllte Wahrheit sieht, wird er selbst gerettet und zugleich fähig, der Welt das Gesehene zu verkünden und sie auf den rechten Weg zu weisen.
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