Am Fuße des Purgatorioberges treffen DanteDante und VergilVergil einen alten Mann von ehrfurchtgebietendem Aussehen, dessen Antlitz von den vier Sternen, die die Kardinaltugenden bedeuten, sonnengleich bestrahlt wird. Er fragt sie streng nach der Rechtmäßigkeit ihres Weges, und aus VergilsVergil respektvoller Antwort – er hat zunächst DanteDante veranlaßt, vor jenem niederzuknieen – geht hervor, daß es Cato von UticaCato v. Utica ist. Denn nachdem VergilVergil ihm seinen göttlichen Auftrag mitgeteilt hat, fährt er auf folgende Weise fort:
Or ti piaccia gradir la sua venuta;
Libertà va cercando ch’è si cara,
Come sa che per lei vita rifiuta.
Tu ’1 sai chè non ti fu per lei amara
In Utica la morte, ove lasciasti
La veste ch’al gran di sarà si chiara. ( Purg . I, 70–75)
Alsdann beschwört er seine Gunst noch bei dem Andenken an seine einstige Gattin MarciaMarcia. Cato weist dies letztere mit unverminderter Strenge zurück; der Wunsch der donna del ciel (Beatrice) genüge: und er befiehlt, daß vor dem Aufstieg DantesDante Gesicht vom Höllenqualm gesäubert und er mit einem Schilfrohr gegürtet werde. Cato erscheint dann noch einmal, am Ende des zweiten Gesanges, wo er die eben am Fuße des Berges gelandeten Seelen, die sich selbst vergessend dem Gesange Casellas lauschen, mit strengen Worten an ihren Weg mahnt.
Cato von UticaCato v. Utica also ist es, den Gott hier zum Wächter am Fuße des Purgatorio bestellt hat: einen Heiden, einen Feind Cäsars, einen Selbstmörder. Das ist sehr erstaunlich, und schon die ältesten Kommentatoren, wie BenvenutoBenvenuto da Imola von Imola, haben sich darüber gewundert. Nur sehr wenige Heiden erwähnt DanteDante, die durch Christus aus der Hölle befreit wurden; und nun ist unter ihnen ein Feind Cäsars, dessen Bundesgenossen, die Cäsarmörder, neben Judas im Rachen Lucifers stecken, und der als Selbstmörder doch nicht weniger schuldig zu sein scheint als jene «Gewalttätigen gegen sich selbst», die für die gleiche Sünde im siebenten Höllenkreise auf das schrecklichste leiden. Das Rätsel löst sich durch die Worte VergilsVergil, der von DanteDante sagt, er suche Freiheit, die so teuer ist, wie du es wohl weißt, der für sie das Leben verschmäht hat. Die Geschichte Catos ist aus ihrem irdisch-politischen Zusammenhang herausgenommen, genau wie es die patristischen Erklärer des Alten TestamentsAltes Testament mit den einzelnen Geschichten Isaacs und Jacobs u. a. taten, und sie ist zur figura futurorum geworden. Cato ist eine figura , oder vielmehr der irdische Cato, der in Utica für die Freiheit dem Leben entsagte, war es, und der hier erscheinende Cato im Purgatorio ist die enthüllte oder erfüllte FigurMittelalterFiguraldarstellung im MA, die Wahrheit jenes figürlichen Vorgangs. Denn die politische und irdische Freiheit, für die er starb, ist nur umbra futurorum gewesen: eine Präfiguration jener christlichen Freiheit, als deren Hüter er hier bestellt ist und um derentwillen er auch hier jeder irdischen Versuchung widersteht; jener christlichen Freiheit von jedem bösen Triebe, die zur echten Herrschaft über sich selbst führt, eben jener, die zu erringen DanteDante mit dem Schilf der Demut gegürtet wird, bis er sie, auf dem Gipfel des Berges, wirklich errungen hat und von VergilVergil zum Herren über sich selbst gekrönt wird. Es ist die ewige Freiheit der Kinder Gottes, für die alles Irdische zu verschmähen ist; die Befreiung der Seele von der Knechtschaft der Sünde, als deren figura Catos freiwillige Wahl des Todes vor der politischen Knechtschaft hier eingeführt wird. Wie DanteDante dazukam, Cato für diese Rolle zu wählen, erklärt sich aus der gleichsam überparteilichen Stellung, die jener bei den römischen Schrifststellern als Idealbild von Tugend, Gerechtigkeit, Frömmigkeit und Freiheitsliebe besaß. DanteDante fand sein Lob gleichmäßig bei CiceroCicero, VergilVergil, LucanLukan, SenecaSeneca (Philosoph) und Valerius MaximusValerius Maximus; insbesondere das vergilische secretosque pios, his dantem iura Catonem ( Aen. 8, 670), zumal bei einem Dichter des Imperiums, muß großen Eindruck auf ihn gemacht haben. Wie sehr er CatoCato v. Utica bewunderte, geht aus mehreren Stellen des Convivio hervor, und daß sein Freitod auf eine besondere Weise zu beurteilen sei, fand er schon bei CiceroCicero ausgesprochen, an einer Stelle, die er in der Monarchie (2, 5) zitiert,45 und zwar in dem für ihn so bedeutenden Zusammenhang der Beispiele römischer politischer Tugend; er will dort zeigen, daß die römische Herrschaft durch ihre Tugend rechtmäßig sei, daß sie dem Recht und der Freiheit der ganzen Menschheit diene; es ist das Kapitel, in dem der Satz steht: Romanum imperium de fonte nascitur pietatis .46
DanteDante glaubt an eine vorbestimmte Konkordanz zwischen der christlichen Heilsgeschichte und der römischen Weltmonarchie; es ist also gerade bei ihm nicht verwunderlich, daß er die FiguraldeutungFiguraldeutung auf einen heidnischen Römer anwendet – er nimmt seine SymboleSymbol, AllegorienAllegorie und Figuren auch sonst aus diesen beiden Welten ohne Unterschied. CatoCato v. Utica ist ohne Zweifel eine figura ; nicht wie die Gestalten des Rosenromans Rosenroman eine Allegorie, sondern eine Figur in dem von uns beschriebenen Sinne, und zwar eine erfüllte, bereits Wahrheit gewordene Figur. Die Komödie ist eine Vision, die die figurale Wahrheit als schon erfüllt sieht und verkündet, und eben dies ist das Eigentümliche an ihr, daß sie die in der Vision geschaute Wahrheit ganz im Sinne der FiguraldeutungMittelalterFiguraldarstellung im MA auf eine genaue und konkrete Weise mit den irdisch-geschichtlichen Vorgängen verbindet. Die Gestalt Catos, als eines strengen, gerechten und frommen Mannes, der in einem bedeutenden Augenblick seines Geschicks und der providentiellen Weltgeschichte die Freiheit höher geachtet hat als das Leben, wird in ihrer vollen geschichtlichen und persönlichen Kraft erhalten; es wird daraus keine AllegorieAllegorie der Freiheit, sondern es bleibt Cato von Utica, so wie DanteDante ihn als persönlich-einmaligen Menschen sah; aber er wird aus der irdischen Vorläufigkeit, in der er die politische Freiheit als höchstes Gut ansah, wie die Juden die strenge Bewahrung des Gesetzes, herausgehoben in den Zustand endgültiger Erfüllung, wo es nicht mehr sich um irdische Werke der Bürgertugend oder des Gesetzes handelt, sondern um das ben dell’intelletto , das höchste Gut, die Freiheit der unsterblichen Seele im Anblick Gottes.
Versuchen wir das gleiche in einem etwas schwierigeren Falle. VergilVergil ist von fast allen alten Kommentatoren als AllegorieAllegorie der Vernunft gesehen worden – der menschlichen und natürlichen Vernunft, die zur rechten irdischen Ordnung führt, das heißt, nach DantesDante Auffassung, zur Weltmonarchie. Den alten Kommentatoren schien eine rein allegorische Deutung nicht anstößig, denn sie empfanden nicht, wie wir, einen Gegensatz zwischen Allegorie und echter Dichtung. Die modernen Interpreten haben sich vielfach dagegen gesträubt und auf das Dichterische, Menschliche, Persönliche der Gestalt VergilsVergil Wert gelegt, ohne doch das «Bedeutsame» daran leugnen und es einwandfrei mit dem Menschlichen in Übereinstimmung bringen zu können. Neuerdings hat sich, und zwar nicht nur für VergilVergil, von verschiedenen Seiten (etwa einerseits L. Valli, andererseits MandonnetMandonnet, P.) wieder eine starke Betonung des rein Allegorischen oder Symbolischen geltend gemacht, die den historischen Sinn als «positivistischPositivismus» oder «romantisch» auszuschalten bemüht ist. Aber hier ist kein Entweder-Oder zwischen geschichtlichem und verborgenem Sinn; es ist eines und das andere. Es ist die figurale StrukturMittelalterFiguraldarstellung im MA, die den geschichtlichen Vorgang bewahrt, indem sie ihn enthüllend deutet, und die ihn nur dadurch deuten kann, daß sie ihn bewahrt.
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