honnêteté
honnêteté sich zur Gemeinschaft, eben zum gebildeten Publikum zusammenschließen konnte. Ob man nun angesichts der neuen Funktion im Ganzen, die den Ständen zufiel, von einem Funktionswechsel oder von einem Funktionsloswerden von Adel und Bürgertum spricht1 – in dem neu gebildeten Publikum sammelt sich das Normbewußtsein der französischen KlassikKlassik (französische), und darum wirkt es selbst als sichtbare lebendige Norm. Denn in der Ablehnung bestimmter Formen der Preziosität, der religiösen Heuchelei, in der Bindung an die
bienséance bienséance und an die neue Philosophie gehorcht das Publikum einem Gesetz des Maßes, das im Zusammenstimmen von Normen und Formen besteht, die respektvoll zu beachten auch die bourgeois im Parterre sich stets verpflichtet fühlen. Darum ist das Parterre nicht das Volk, wohl aber eine Schicht, die hervorragend geeignet war, mit der höheren höfischen Gesellschaft innerlich zu verschmelzen. Weil in beiden kein ständisch bestimmbarer Geist herrschend war, ergab sich aus dem Zusammenklang der in der Vereinzelung nicht wirksamen Kräfte eine neue Organisation des Lebens. Hier wird die geistige Situation einer Epoche zur Entfaltung gebracht, man sieht sich, Aug in Auge, der großen dichterisch-kritischen Bewegung der Zeit gegenüber und sieht durch das Medium der Wörter alle ihre Züge gesammelt konzentriert.
Ein ähnliches Beispiel bietet der Aufsatz Über Pascals Pascal, B. politische Theorie, der von dem Fragment der Pensées ausgeht, das von der Schwäche des Rechts handelt. Das Fragment fesselt den Leser durch das Gleichgewicht von Anschauung und Form, durch eine Diktion, die so sehr PascalPascal, B. ist, daß sie Anzeichen einer ganz neuen Art inneren Aneignens zu sein scheint, einer «einzigartigen Verbindung von Logik, Rhetorik und Leidenschaft». In den Pascalschen Gedanken treffen verschiedene Entwicklungslinien zusammen, und zwar MontaigneMontaigne, M. des die Gesetze auf die Gewohnheit reduzierende Ansicht mit der Lehre von Port-RoyalPort-Royal über die ursprüngliche Verderbnis der menschlichen Natur. Die Verbindung beider ist das Medium, in dem PascalsPascal, B. Gedanke sich entwickelt. Sein Haß gegen die menschliche Natur, seine Entlarvung des menschlichen Rechts als gesetztem und bösem und seine Anerkennung dieses bösen Rechts als des einzigen zu Recht bestehenden, zeigen die für das behandelte Fragment charakteristische Motivverflechtung, ja die Durchdringung seines Denkens mit Montaigneschen und kirchlich-theologischen Vorstellungen. Die Pascalsche Theorie ist der Ausdruck dafür, daß die Passivität des Christen gegenüber der bösen Welt die notwendige Begleiterscheinung seines Sündenbewußtseins ist, und zugleich tritt in der schrittweisen Enthüllung der Begriffe von Macht und Recht der für das 17. Jahrhundert in Frankreich so charakteristische AugustinismusAugustinismus2 in Erscheinung, der das Bild des Menschen, das die Philosophie entworfen hat, verwandelnd umdeutet, indem er es unter die allgemeine Wirklichkeit christlicher Heilsordnung stellt. In der Analyse der Motive nimmt Auerbach nicht nur auf den im Wesen von PascalsPascal, B. Person und in der politischen Welt des 17. Jahrhunderts angelegten Weg der Erkenntnis Bezug, er zeigt gleichzeitig die Nachwirkung philosophischer und theologischer Begriffe als eine innere Bestimmung des christlichen Lebens. Erscheint so die böse Welt, in deren blinde Zufälle das Dasein gebannt ist, als die Schranke, die den Menschen von jeder Aktivität trennen müßte, so steht – doch nur scheinbar – einer solchen Erkenntnis der positive Kampf der Lettres provinciales gegenüber. Der Pamphletist ist nämlich das Werkzeug Gottes, dessen Wille im Sieg oder in der Niederlage der Wahrheit zum Vorschein kommt. Der Aufsatz bietet ein vorzügliches Beispiel der Interpretationskunst: in allen Formulierungen verlieren wir das Fragment nicht aus den Augen, es wird nur seinem Gehalt nach immer wieder neu gefaßt und in anderer Beleuchtung gesehen – es diente als Ausgangspunkt für eine umfassende Deutung, die wesentliche Bezirke Pascalschen Denkens berührt.
Der Pascalanalyse methodisch verwandt ist der Aufsatz über Baudelaires Fleurs du Mal und das Erhabene . Im Licht der Anschauung zeigen sich die Dinge am besten, und deswegen geht die Interpretation – wie die Kunsthistorie von einem Bild – von dem vierten der Spleengedichte BaudelairesBaudelaire, Ch. aus, dessen charakteristisches Merkmal ist, daß es ein frühes Beispiel tragischer Darstellung des Niederen und Würdelosen bietet.3 In dieser Richtung lag ein scharfer Gegensatz gegen alle RomantikRomantik, aber auch gegen jede Beschreibung des Körperlich-Geschlechtlichen im leichten Stil. Indem die weitausgreifenden Beziehungen der Fleurs du Mal zum Realistisch-Gräßlichen und zum Sinnlichen mit einem aus erhabenen Quellen der Phantasie geschöpften Inhalt erfüllt werden, entsteht ein ganz neuer Stil, der mit dem Anfang einer Universalität verflochten war. Einer Universalität, die, antik-christlichem, klassischemKlassik (französische) wie romantischem Denken unbekannt, einen Resonanzboden ergeben mußte, dessen Bereich unendlich war. Als ein Künstler erscheint BaudelaireBaudelaire, Ch., dessen Visionen einer künstlichen Sinnlichkeit christlichem Geist entgegenwirkten und die Literatur des Jahrhunderts in andere Bahnen gelenkt haben. Es ist, als ob ein Vorhang sich gehoben hätte und wir nun in eine Welt sehen würden, in der sich ein ganz neues Verhältnis anbahnt zwischen dem Niederen, dem Elend und dem Erhabenen, den letzten Dingen – eine complexio oppositorum, doch nicht mehr gebunden an die Vorherrschaft der Transzendenz … Formale Analyse der individuellen Form und Erscheinung und systematische Perspektive ergänzen einander in dem Aufsatz, der die Trennungslinien zwischen der Kunst Baudelaires und der früherer Zeiten zieht und erkennen läßt, warum man in den Fleurs du Mal den Anstoß zu neuer künstlerischer Orientierung suchen muß.
Hier, aber auch in den wortgeschichtlichen Studien über figura, humilis humilis , passio passio oder gloria passionis gloria passionis ,4 und in jedem Kapitel der Mimesis hat die Methode der Anschauung das Höchste erreicht, um, vom Einzelnen ausgehend, Gliederung, Verteilung und Struktur aufzufassen, geschichtlich bestimmte Individualitäten zu erkennen, die allen Richtungen etwas aufprägten, um oft in der Fülle verwandter oder entgegengesetzter Beziehungen die Deutung zu gewinnen. Die Beschreibung der Phänomene enthält noch nicht die Interpretation, bringt aber ihren anschaulichen Gehalt zur Geltung, in einer Art von Vorverständnis, die eine explizite Erklärung vorbereitet.
In jene die Linien der Forschung weit ausdehnende Verfahren – sie sind zusammengezogen in der Introduction aux études de philologie romane (erste Aufl. Frankfurt, 1949) – fügt sich früh ein soziologischer Zug. Seit seiner Erstlingsarbeit interessierte Auerbach die Herkunft der Schriftsteller und die Zusammensetzung ihres Publikums. So wurde er Meister auf einem Gebiet, das an der Peripherie der Philologie zu liegen schien Soziologie mit Philologie und Stilkritik verbindend, dachte er stets an die Wirkung eines Autors auf die Leser, die oft erst unter dem Eindruck eines bedeutenden Textes sich zu einem «Publikum» zusammenschlossen. Verschiedene Leserkreise treten in den Schriften Auerbachs mit scharfer Bestimmtheit heraus: das mittelalterliche Publikum, das gebildete des französischen 17. Jahrhunderts, das moderne, das so oft der einigenden Formung durch den Autor zu widerstreben scheint, das «abendländische und seine Sprache». Dadurch entsteht der geschichtliche Konnex eines Schriftstellers mit einer bestimmten Gedanken- und Gefühlswelt, und in isolierte Texte strömen die gesellschaftlichen Quellen, als ob die jeweilige «Öffentlichkeit» Sprache und Literatur nie aus ihrem Bann entlassen könnte.
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