Am Abend ergreift sie ihr Telefon: „Babett, stell dir vor, ich hab doch gar kein Geld für die Türkei und jetzt hab ich’s aber einfach gesagt, dass ich wegfahre. Dass ich gebucht habe. Und er glaubt es mir auch noch. Ist das komisch. Jetzt weiß ich nicht wohin und ich muss irgendwohin und ich hab auch gar nicht viel Kohle, jedenfalls nicht so viel.“
„Was? Ich dachte, bei euch ist alles in Ordnung?“ Babett klingt baff am anderen Ende der Leitung.
„Nein, nichts ist in Ordnung, ich erzähl nur nicht jedem immer alles!“
„Bin ich jede?“
„Babett“, Henriette atmet tief durch, „natürlich nicht! Nur was mach ich jetzt! Meine Freunde sind doch keine Mülleimer für diesen Typen, der sich noch mein Mann schimpfen darf. Ich hab so die Schnauze voll, du glaubst es gar nicht. Aber ich hab auch solche Angst!“
Frauen
Lea wird die Tür geöffnet. Sie hat unten geklingelt und oben.
„Dort unten gibt es einen Türöffner, den benutze bitte, sonst denken die Frauen hier, es sind Gäste. Komm mit. Dein erster Tag hier? Dann bleibst du erst mal bei mir und ich erklär dir das Prozedere. Zieh dich mal in Ruhe um, dein Portemonnaie kann ich hier einschließen, bis du einen eigenen Schrank hast.“
Lea ist eingetaucht in eine andere Welt. Die Frauen beäugen sie. Sie sitzen auf dem Sofa, schminken sich im Bad oder waschen sich auf dem Bidet ihren Unterleib.
Ab und zu klingelt es, dann stellen sie sich der Reihe nach vor, wenn der Gast nicht schon einen Wunsch hat.
„Pass auf, dass sich keiner in dich verliebt“, lacht Medea Lea an.
„Und du“, Lea staunt, „du könntest doch Topmodel werden oder Unterwäschemodel oder überhaupt Model.“ Lea ist ungläubig, was für Schönheiten!
„Nee, nee“, mischt sich Susanna ein, „wenn du hier gearbeitet hast, kannst du dich nie wieder in der Öffentlichkeit blicken lassen. Irgendjemand erkennt dich und dann ist es vorbei mit der Karriere.“ Lea rutscht das Herz in die Hose. Die Realität von draußen ist gerade in diese Räume mit eingesickert und schnürt ihre Kehle zu. Die Kehle, die sowieso die nächsten Jahre keinen Alkohol mehr schmecken wird, hatte Lea kurzfristig beschlossen. Ihr ist immer noch kotzübel. Jetzt kann sie keine Karriere mehr machen? Ihr Leben ist vorbei? Dabei hat sie ihr Leben doch gerade gerettet. Es fing doch grad für sie an. Sie fühlt ihren flauen Magen, immer noch.
„Cosma!“, ruft die Hausdame laut, „der Gast, im rosa Zimmer hat sich für dich entschieden, eine Stunde!“
Lea hüpft alles in ihrem Körper hoch. O je, Sex, wie geht das überhaupt? Hab ich schon eine Ewigkeit nicht mehr gehabt.
„Ich weiß gar nicht mehr, wie Sex geht“, ruft sie verzweifelt in die Runde.
Die Frauen grinsen. Was ist das für eine, tut jungfräulich und meldet sich im Puff an. Wat für ’ne Welt.
„Das kann man nicht verlernen!“ Die Hausdame gibt sich zuversichtlich.
„Aber du musst nicht, wenn du nicht willst, dann sag ich ihm Bescheid!“ Tröstlich. Doch Lea ist entschlossen.
„Erst mal komme ich zum unromantischen Teil!“, lächelt sie den Gast in Rosa an.
„Ja, ja“, aufgeregt gibt er ihr das Geld.
Lea nimmt es genauso aufgeregt entgegen: „Gleich bin ich wieder da!“
Dann gehen sie zusammen aufs Zimmer. Musik spielt. Ein riesiges Bett, verhangen mit großzügigem Tuch, von Kordeln verziert. Das Licht gedimmt, es ist halbdunkel.
„Du kannst dich echt blicken lassen“, sagt der dunkelhaarige Mann, mit dem sie kurze Zeit später ein schönes Techtelmechtel hat. Als wüsste er um ihre Ängste. Lea hatte seit Langem keinen so guten Sex gehabt, wie mit ihm. Er war auf der Durchreise, lebt in Hamburg. Sie verlässt ein paar Stunden später das Bordell mit gemischten Gefühlen.
Sie hat Geld genommen für Sex und hatte guten Sex. Mit dem einen Mann. An diesem ersten Sonntag. Als Erstes kauft sie sich etwas zu essen, eine Flasche Wein und Zigaretten. Der Rest kommt in Iris’ Lieblingsdose. Für die Miete. Für ihr neues Leben. Dafür, dass sie irgendwo nächste Woche eine Tasse Kaffee trinken wird, ohne sich selbst dabei zu erwürgen. Morgen wird sie wieder gehen. Sie legt sich in das Bett von Bernd und Iris, das hatte sie seit Jahren nicht mehr gemacht. Richtig, das letzte Mal lag sie hier, zwischen den beiden, bevor sie wieder heimfuhr, nach Bilma. Ines und Bernd weinten. Jetzt ist es hier still. Zu still. Doch friedlich. In Embryostellung schläft Lea ein und träumt von einem Sternenhimmel und tausend über tausend Lichtern einer Stadt. Berlin. Ihre Stadt. Hier würde sie bleiben und alt werden.
Lügen, Notlügen
„Frag doch mal Susi, die hat einen Schrebergarten in der Nähe von Potsdam!“, ruft Babett begeistert.
„Hey, ja, super Idee, ich ruf sie gleich an.“
Vier Minuten später.
„Babett, hast du Lust mitzukommen. Susi ist auch dabei. Ein oder zwei Wochen Ferien in ihrem Haus! Mit Steg zum See, Champagner und Grillen und Modeschauen laufen, Karten legen, baden, lesen, das wäre schön.“
Henriette klingt begeistert, der Urlaub ist gerettet.
„Ja, klar, klingt gut. Ich bin dabei.“
„Toll, bis in einer Woche, ich freue mich. Ich muss auflegen.
Wunderbar. Tschüüüüß!“
Henriette drückt auf ihr Handy und sinkt aufs Bett zurück.
Welch Glück im Unglück.
Die Tage bis zu ihrem Abreisedatum vergehen schnell. Sie sind gefüllt mit Einkäufen, Essen kochen, Wäsche waschen, Fußnägel lackieren, Diskussionen mit den Kindern und dem Räuspern ihres Mannes. Dazwischen werden Hausbesuche mit Frauen geschoben, Vor- und Nachsorgetermine, endlose Telefongespräche mit Müttern über Stillprobleme und wunde Babypopos. Manchmal kann sie die Gespräche über die Konsistenz der Babykacke nicht mehr hören. Dann rollt Henriette mit den Augen und steckt in unbeobachteten Augenblicken die Zunge raus. Wie öde. Ob nun grün oder ocker oder braun. Gefleckt, mit Streifen oder besprenkelt mit weißen Tupfern. Ob nun angemalt mit Blümchen oder Zuckerwatte. Business as usual, also hält sie durch. Dann schaufelt sie die nächste Woche frei von Terminen. Und die Übernächste auch noch. Was soll’s. Es ist dringend nötig. Feierabend. Schluss. Ab und zu geht Henriette auch einen Kaffee in der Kollwitzstraße trinken. Für sparsame 1,40. Tomas beäugt sie. Er hat jetzt auch frei.
Am Abreisetag regnet es in Strömen. Henriette hat ihren roten Koffer gepackt. Es ist sechs Uhr morgens und sie wird langsam nervös.
„Weißt du, wann der Flug in Hamburg losgeht?“, fragt Tomas. Er sitzt bereits am Küchentisch ohne reingepinkelten Kaffee.
„Ja, um zwölf Uhr fünf.“
Und du willst erst um neun Uhr losfahren, du musst mindestens um sieben Uhr losfahren.“
Henriette überlegt. „Ja, stimmt! Bringst du mich dann noch zum Auto? In einer halben Stunde bin ich so weit. “
Komisches Muster, denkt Henriette verzweifelt, wenn ich auf dem Abflug bin, kümmert er sich plötzlich. Sonst kann ich mich abmurksen, ist ihm scheißegal. Geht ihm sonst wo vorbei. Ich bin’s so satt, so leid. Sie spürt eine Art Ernüchterung, die sich dann doch wieder mit dem Schmerz vermischt. Genau in der Mitte. Stumm bringt Tomas Henriette zum Auto. Ein bisschen winkt Tomas noch, als sie das Auto startet, dann verzieht er den Mund. Es sollte wohl ein Lächeln sein. Denkt Henriette. Dann fährt sie links hoch, biegt rechts in die Kolmarer Straße ein, um dann wieder in die Knaackstraße zu fahren. Schnell geradeaus über die Straßenbahnschienen. Verboten. Unsanft nach links. Die Lenkstangen stöhnen. Oh Mann. Was für ein Stress. Dann parkt sie vor Babettes Haus in der Winsstraße. Kleine Tropfen fallen auf die Frontscheibe. Tippt Babettes Nummer in ihr Handy ein, niemand nimmt ab. Vergeblich hofft Henriette auf einen Rückruf, sie stellt auf laut. Der Nieselregen ist in heftigen Regen übergegangen. Es pladdert fette Tropfen auf das Autodach. Sie holt sich schnell die rote Wolldecke vom Rücksitz, die sie letztes Jahr auf dem Kollwitzmarkt gekauft hat und wickelt sich damit ein.
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