»Ich meine das Nest, das nennt man doch auch Horst, du Horst! He, Fiona, was hast du vor?« Janniks kleine weiße Ratte hatte sich aus der Kängurutasche seines Pullovers gehangelt und war auf seine Schulter geklettert. Schützend hielt er eine Hand über sie. »Und auf der Roten Liste für gefährdete Tierarten stehen Störche auch, deshalb ist dieser Brutplatz hier auch etwas ganz Beson–«
»Aaaah!«, schrie Lennart plötzlich und konnte sich nur mit Mühe auf den Beinen halten. Er war mit dem Fuß in einer Schnur hängengeblieben. »Jetzt reicht‘s mir aber«, schimpfte er. »Warum liegt denn heute überall da, wo ich langlaufe, irgendwas im Weg rum?!«
Sein Bruder ignorierte ihn und deutete auf eine rautenförmige Röhre mit einem faustgroßen Loch, die an der Eiche angebracht war. »Guck mal, wie toll! Ein Eulennistkasten!« Schnell schob er Fiona wieder in seine Tasche zurück. »Eine Eule ist für dich nicht der richtige Umgang«, sagte er streng.
»Der eigene Bruder könnte von der Klippe stürzen, aber der feine Herr Jannik hat nur Augen für irgendwelche Nistplätze«, beschwerte sich Lennart, doch dann verstummte er. Über ihren Köpfen tauchte plötzlich einer der Störche auf, drehte eine Runde über der Eiche und landete dann elegant in seinem Nest.
»Wahnsinn, oder?«, flüsterte Jannik verzückt. »Ob die schon angefangen haben zu brüten?«
Während sein Bruder den Storch mitsamt Nest abzeichnete, fläzte sich Lennart ins Gras, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, und blickte in den Himmel. Dunkle Wolken zogen sich über dem Bieberheimer Forst zusammen.
Endlich war Jannik so weit, faltete die Karte zusammen und grinste seinen Bruder zufrieden an. »Projektarbeit erledigt. Mir fehlte nur noch das Storchennest.«
»Schön für dich!« Lennart zog eine Grimasse. »Dann nichts wie ab ins Hauptquartier – ich bin megagespannt, was Pauline mitgebracht hat!«
Als Lennart und Jannik gerade ihre Räder neben Paulines mintgrünem Hollandrad vor dem Limonenweg 45 abstellten, bogen Ben und Flora im Laufschritt um die Ecke. Ben legte auf den letzten Metern einen Sprint ein und sprang mit einem Satz über die kleine Hecke in den Vorgarten der Familie Ritter-Vogel. Flora kam keuchend hinterher und hielt sich die Seiten. »Ben meint ...«, japste sie mit hochrotem Kopf, »ich muss ... an meiner ... Kondition ... arbeiten.«
Ben tätschelte ihr aufmunternd die Schulter. »War doch schon ganz ordentlich.«
Flora rollte die Augen und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Seit Neuestem spielte Flora in der Mädchenmannschaft des FC Bieberheim und Ben, schon seit dem Bambini-Alter begeisterter Fußballspieler im selben Verein, war mächtig stolz auf seine kleine Schwester. Pauline war anfangs auch zweimal mit zum Training gekommen, hatte dann aber schnell festgestellt, dass sie doch lieber beim Ballett bleiben wollte.
Jannik warf Flora einen mitfühlenden Blick zu. »Sport ist echt anstrengend.«
»Für eine faule Socke wie dich auf jeden Fall!« Lennart lachte und brachte sich schnell vor dem Boxhieb seines Bruders in Sicherheit. »Los, ich will endlich wissen, was Pauline uns Tolles zeigen will.«
»Geht uns genauso«, meinte Ben, denn er und seine Schwester hatten dieselbe Nachricht erhalten.
Die vier liefen über den schmalen Weg am Haus vorbei in den kleinen Garten, wo sich das Hauptquartier der Grünen Piraten befand. Ein ausrangierter Wohnwagen parkte ganz am Ende des Grundstücks, halb verborgen zwischen Büschen und niedrigen Apfelbäumen.
Plötzlich schepperte es laut und seltsame knurrende Geräusche ertönten aus dem Wohnwagen. Die vier stoppten abrupt und sahen sich erschrocken an.
»Pauline?«, rief Jannik. »Alles in Ordnung?«
Die Kinder sprinteten gleichzeitig los, Ben war als Erster am Wohnwagen und riss die Tür auf. Verblüfft hielt er inne und starrte auf sein Gegenüber, das genauso überrascht aus großen braunen Augen zurückstarrte. Es war etwa einen Meter hoch, hatte auf dem Kopf und an den Beinen weißes puscheliges Fell und dazwischen kurz geschorene Locken.
»Was ist denn da?« Neugierig schob sich Flora an ihrem Bruder vorbei. Hinter den beiden reckten Jannik und Lennart die Köpfe, um auch einen Blick ins Innere des Wohnwagens zu werfen.
»Oh, ist der süß!«, flötete Jannik beim Anblick des Pudels, der ein oranges Kissen im Maul hatte.
»He, das ist meins!«, rief Lennart und sprang die Stufe hoch.
Lachend verfolgten Ben und Flora, wie der schwarzhaarige Junge versuchte, den großen Hund einzufangen, der über die Sitzbank, den kleinen Tisch und dann zurück auf das ausgeklappte Bett sprang, das den Kindern als Chill-Ecke diente. Endlich hatte Lennart einen Zipfel des orangen Kissens erwischt und zog heftig daran.
RITSCH!
Der Stoff riss und plötzlich stoben jede Menge weiße Watteflöckchen durch die Luft. Erschrocken ließ er das Kissen los und der Hund tobte siegreich damit über die Matratze, wobei er seine Beute wild knurrend hin und her schleuderte.
»Was ist hier los?« Pauline drängte sich zwischen Jannik und Ben hindurch. »Sansibar, aus!«
Der Hund warf ihr einen kurzen Blick zu, kämpfte dann aber unbeirrt weiter mit dem Kissenrest.
»Sitz und aus!«, versuchte Pauline es noch einmal und als auch das nichts half, griff sie kurzerhand nach dem Halsband und zerrte dem Pudel den Stofffetzen aus dem Maul. »Böser Hund«, schimpfte sie und reichte das zerlöcherte Ding an Lennart weiter, der es mit spitzen Fingern entgegennahm. »Tut mir leid, ich war nur schnell auf Toilette und dachte, ich kann ihn einen Moment alleine lassen. Er ist wohl noch etwas ... verspielt.«
Lennart hielt sein ehemaliges Lieblingskissen hoch und verzog den Mund. »So, so, verspielt.«
Jetzt kletterten auch die anderen in den Wagen. Jannik ließ sich neben Sansibar auf die Matratze fallen und kraulte das weiche, lockige Fell. Sofort drehte sich der Hund auf den Rücken und genoss die Streicheleinheiten. »Das ist wirklich mal eine tolle Überraschung«, sagte Jannik strahlend. Er liebte Tiere über alles. Zu gerne hätte er auch einen Hund gehabt, aber die kleine Fiona war das einzige Zugeständnis seiner Eltern.
Pauline strich sich die Haarsträhnen aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten, und blickte den Jungen verwirrt an. »Äh, wovon sprichst du?« Doch dann begriff sie: »Sansibar? Den hab ich eigentlich gar nicht gemeint.« Lachend wuschelte sie über den Kopf des Pudels. »Meine Tante musste für ihre Firma nach Südamerika fliegen, deswegen hat sie Sansibar zu uns gebracht. Meine Eltern waren nicht gerade begeistert, aber sie konnten es Tante Henriette auch nicht abschlagen. Sansibar ist ihr Ein und Alles, er hat sogar schon Preise auf irgendwelchen Wettbewerben gewonnen.«
»Sein Benehmen ist allerdings nicht ganz so preisverdächtig«, nölte Lennart und stopfte sein besiegtes Kissen in den Mülleimer.
Pauline sprang auf. »Jetzt kommt meine eigentliche Überraschung. Ihr dürft gespannt sein.« Mit diesen Worten verschwand sie durch die Tür.
Die restlichen Grünen Piraten warfen sich fragende Blicke zu, bis auf Jannik, der sich sowieso keine bessere Überraschung als einen Hund vorstellen konnte. Kurz darauf war Pauline zurück und wuchtete ein riesiges Paket in den Wohnwagen. Ben sprang auf und half ihr den langen Karton hineinzuziehen.
»Das hier«, Pauline holte kurz Atem und deutete auf das Paket, »ist die zukünftige Stromversorgung unseres Hauptquartiers: das Grüne Piraten-Windrad! Und ganz nebenbei noch mein Umweltprojekt für die Schule«, fügte sie hinzu. »Na, was sagt ihr?«
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