Mimmo Lucano
Übersetzt
aus dem Italienischen
von Elvira Bittner
Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde im Rahmen des Programms »NEUSTART KULTUR« aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.
Der rüffer & rub Sachbuchverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.
© 2020, Mimmo Lucano
Zuerst publiziert bei Giangiacomo Feltrinelli Editore srl, Milano Publiziert in Zusammenarbeit mit Walkabout Literary Agency
Deutschsprachige Ausgabe:
Erste Auflage Herbst 2021
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2021 by rüffer & rub Sachbuchverlag GmbH, Zürich
info@ruefferundrub.ch| www.ruefferundrub.ch
E-Book-Konvertierung: Bookwire GmbH
ISBN 978-3-906304-87-8
eISBN 978-3-906304-91-5
PREFAZIONE| Was brauchen wir, um unsere Seele nicht zu verlieren? [Elvira Bittner] PREFAZIONE Was brauchen wir, um unsere Seele nicht zu verlieren? Von Elvira Bittner (Übersetzerin des Buches)
PREFAZIONE| Alle, zu jeder Zeit! PREFAZIONE
1Becky oder: Nur ein Stück Papier CAPITOLO 1 Becky oder: Nur ein Stück Papier Grab von Becky Moses auf dem Friedhof von Riace
2Das Fest der Roma CAPITOLO 2 Das Fest der Roma Das Fest der Heiligen Cosmas und Damian
3Zwei Robertos CAPITOLO 3 Zwei Robertos Roberto Lucano senior († Januar 2020) vor einem Wandbild in Riace
4Fußball spielen CAPITOLO 4 Fußball spielen
5Kalabrien: Land der Priester, Heiligen und Mafiosi CAPITOLO 5 Kalabrien: Land der Priester, Heiligen und Mafiosi Wandbild in Riace, das symbolisch für die Mafiamorde steht
6Neustart aus der Niederlage CAPITOLO 6 Neustart aus der Niederlage
7Mimmo der Kurde
8Touristische Utopie
9Riesiges Amerika
10Auf die Straße
11Meine Freunde
12Das Modell Riace
13Ein linker Bürgermeister
14Wasser und Esel
15Solidarisches Geld
16Der Gesetzlose
FINALE| Auch die Ziegen sind in Kontemplation
EPILOGO| Solidarität vor Gericht [Giovanna Procacci]
Anhang
Anmerkungen
Bildnachweis
Biografien
PREFAZIONE
Was brauchen wir, um unsere Seele nicht zu verlieren?
Von Elvira Bittner (Übersetzerin des Buches)
Am 1. Juli 1998 landet an der Küste des kleinen kalabrischen Dorfs Riace ein Schiff mit kurdischen Flüchtlingen. Niemand kann zu diesem Zeitpunkt damit rechnen, dass aus diesem Ereignis das »paese dell’ accoglienza« entstehen würde, das »Dorf des Willkommens«, und dass dieses Dorf in den folgenden 20 Jahren nicht nur in Kalabrien und Italien, sondern auch international Bekanntheit erlangen wird. Ein Dorf, das der Entvölkerung preisgegeben war, weil seine Einwohner seit Langem auf der Suche nach einem besseren Leben in andere Länder emigrierten, bekommt durch die Zuwanderung von Geflüchteten, von »Neubürgern«, neue Hoffnung und Perspektiven. Traditionelle Betriebe und Werkstätten werden wiederbelebt und neue entstehen, über die Jahre hinweg werden Tausende von Menschen aufgenommen, manche ziehen weiter, andere bleiben. Aus aller Welt strömen Interessierte herbei, um sich zu informieren, was sich aus dem »Modell Riace« lernen ließe. Aus dem verschlafenen Dorf wird ein Ort am Puls der Zeit, ein Vorzeigeprojekt, das einen sehr konkreten Vorschlag macht für die Lösung einer der größten Krisen unserer Zeit: eine »Utopie der Normalität«.
Initiator und Motor des Projekts ist Domenico »Mimmo« Lucano, aufgewachsen in Riace und nach langen Jahren im »Riace anderswo« dorthin zurückgekehrt, weil er in seiner belasteten Heimat Verantwortung übernehmen will. Er ist Visionär, politischer Aktivist und kompromissloser Humanist, und 2004 wird er zum ersten Mal zum Bürgermeister gewählt, ein Amt, das er nach zweifacher Wiederwahl bis 2018 innehaben wird. 2018 wird zum Wendepunkt für Riace und seine Arbeit: War es schon vorher immer wieder zu Problemen mit den Behörden gekommen, so wird das Projekt nun, mit dem Aufstieg der italienischen Rechten und Lega-Chef Salvini als Innenminister, offen bekämpft und kriminalisiert. Lucano sieht sich inzwischen einem Strafprozess gegenüber, der längst noch nicht ausgestanden ist.
Seither sind die Straßen Riaces wieder weitgehend verlassen, es ist mittlerweile still geworden im Dorf des Willkommens. Dennoch ist das letzte Kapitel nicht geschrieben, und es ist zu früh, ein »Ende« unter die Geschichte zu setzen. Riace hat Entwicklungen angestoßen, die weiterwirken, und viele Menschen haben dazu beigetragen, dass es zu dem geworden ist, was es war. Sie alle tragen etwas weiter, einen Funken, einen Gedanken, eine Überzeugung, dass es auch anders geht, anders gehen muss. Dass Europa dem Zustrom von Verzweifelten auf eine Weise begegnen muss, die mit seinen eigenen Werten in Einklang steht.
Menschen sterben in der Wüste, sie ertrinken im Meer, sie werden in Internierungslagern wie in Libyen gefoltert. Schiffe der privaten Seenotrettung irren durchs Mittelmeer und suchen vergeblich nach Häfen, humanitäre Organisationen werden schikaniert, Abschiebungen in tödlich gefährliche Länder durchgezogen, auf Biegen und Brechen. Auf den italienischen Tomatenfeldern schuften »Erntesklaven« unter Bedingungen, die einem anderen Jahrhundert anzugehören scheinen. Und die, die es etwa nach Deutschland schaffen, werden über Jahre hinweg in quälender Perspektivlosigkeit gehalten und von einer Bürokratie erdrückt, deren höchstes Ziel nichts anderes zu sein scheint, als die Menschen »draußen« zu halten.
Ich bin im Winter 2020, kurz vor Corona, mit einer Gruppe interessierter Menschen nach Riace gereist. Seit mehreren Jahren war ich schon in München als ehrenamtliche Flüchtlingshelferin aktiv, und Riace war in unseren Kreisen seit Langem ein Begriff. Mein Ehrenamt hatte mich in den Jahren zuvor nachhaltig verstört, denn ich hatte nicht damit gerechnet, wie hart und teils willkürlich das deutsche Asylsystem agiert. Ich hatte Anhörungen und die daraufhin erfolgenden Entscheidungen mitverfolgt und darüber den Glauben an faire Asylverfahren verloren, hatte die »Vergrämungsstrategien« der Behörden aus unmittelbarer Anschauung kennengelernt, hatte erfahren, was Worte wie »politischer Wille« oder »systemischer Rassismus« in der Praxis bedeuten. Das Land, in dem ich vor 2015 gelebt zu haben glaubte, war nicht das, das ich in den Jahren darauf vorfand. Was ich erlebte, war nicht anständig, es war nicht menschenfreundlich, es war keineswegs durch ein gesundes Fundament von unverbrüchlichen Werten unterlegt. Es war nicht einmal vernünftig, der gesunde Menschenverstand spielte darin keine Rolle. Stattdessen gaben die »großen As« in diesem System den Ton an: Abschottung, Abschiebung, Arbeitsverbote.
Über alle Widerstände hinweg – oder vielleicht gerade deswegen – ist in Deutschland aus der kurzen Phase der »Willkommenskultur« (ein mediengemachter Begriff, der eigentlich nie einen Inhalt hatte) trotz allem eine spannende Bewegung geworden. Freundschaften entstanden, über alle Grenzen und Unterschiede hinweg, nicht nur zwischen den Helfern, sondern auch zwischen »Alt- und Neubürgern«. Viele Engagierte politisierten sich, schlossen sich zusammen, fruchtbare Synergien entstanden. Wir organisierten Proteste und Debatten, setzten uns mit Behörden, Medien und Politik auseinander, bildeten uns im Asyl- und Ausländerrecht weiter. Ich war beeindruckt, wie viel Wissen, Know-how und Ideenreichtum in diesem menschlichen Sammelsurium vorhanden war. Und wenn auch die meisten von uns heute ausgebrannt und über die immer weiteren Verschärfungen verzweifelt sind, so hatte ich wenigstens das Glück, Menschen kennenzulernen, deren Mut, Zähigkeit und Ausdauer ich bis heute aufrichtig bewundere. Sie sind für mich das »bessere Deutschland«, die Vertreter einer »Utopie der Normalität«, in der ich gerne gelebt hätte. Allein: Die Zeit schlug eine andere Richtung ein als die, in die wir gemeinsam gehen wollten.
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