Karl Olsberg
Das Dorf
Band 16:
Tief gesunken
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In gleicher Weise wurde auch
die Insel Atlantis
durch Versinken in das Meer
den Augen entzogen.
Platon, „Timaios“, ca. 360 v. Chr.
1. Verständigungsprobleme
„Was meinst du, Schatz?“, fragt Golina. „Soll ich morgen zur Kirche lieber dieses Kleid anziehen oder das hier?“
Unsicher blickt Primo zwischen den beiden braunen Kleidern hin und her, die Golina ihm hinhält. Sie sehen für ihn beide absolut identisch aus.
„Ich weiß nicht“, sagt er vorsichtig.
„Vielleicht nehme ich das hier“, meint Golina. „Ich glaube, das steht mir besser.“
„Gut“, stimmt Primo zu.
„Andererseits, bei diesem hier wird meine Figur nicht so betont.“
„Dann nimm halt das andere.“
„Du findest also auch, ich bin zu dick?“, fragt Golina mit einem beleidigten Unterton.
„Was?“, erwidert Primo verwirrt.
„Du hast gesagt, ich soll das hier anziehen, weil es meine Figur nicht so betont!“
„Hab ich gar nicht! Außerdem bist du nicht zu dick! Du hast eine perfekte Kastenform!“
„Das sagst du bloß, um mich zu beruhigen! In Wirklichkeit findest du mich dick. Gib es ruhig zu!“
„Das ist Unsinn!“
„Aber Margi ist schlanker als ich, oder?“
„Kann sein.“
„Da siehst du es! Ich bin doch zu dick!“
„Bist du überhaupt nicht! Und selbst, wenn du dick wärst, würde ich dich trotzdem genauso lieben!“
„Trotzdem?“
„Ja, trotzdem!“
„Du findest mich also hässlich, aber du liebst mich trotzdem ?“
Primo starrt Golina entgeistert an. Er findet sie wunderbar und kein bisschen zu dick. Aber irgendwie hat er das Gefühl, dass sie alles, was er sagt, falsch versteht.
„Ich finde dich überhaupt nicht hässlich!“, sagt er vorsichtig.
„Aber du findest mich zu dick, oder?“
„Nein, bei Notch! Ich finde dich nicht dick, und mir ist es völlig egal, welches Kleid zu anziehst, zum Nether!“
Golina bricht in Tränen aus. „Du findest mich nur deshalb nicht zu dick, weil es dich gar nicht interessiert, wie ich aussehe!“, schluchzt sie. „Ich bin dir völlig egal! Buhuhuu!“
Primo wirft die Hände in die Luft. Er hat keine Ahnung, was er noch sagen soll. Vielleicht ist es am besten, wenn er das Haus verlässt.
„Ich mache lieber mal einen Rundgang durchs Dorf“, sagt er. „Seit Artrax wieder aufgetaucht ist, kann man nicht vorsichtig genug sein.“
Draußen trifft er den Golem. Die Katze Mina sitzt wie immer auf seinem Kopf.
„Hallo, Asimov. Sag mal, kannst du mir erklären, warum Frauen so seltsam sind?“
„Ja“, antwortet der Metallkoloss.
„Echt jetzt? Warum denn?“
„Ist doch logisch: Weil sie Knollnasen sind, genau wie du. Ihr seid alle seltsam. Aber ich gewöhne mich langsam daran. Jedenfalls rede ich mir das ein. Anderseits schafft ihr es immer wieder, mich mit eurer Idiotie zu verblüffen.“
In diesem Moment kommt Olum, der Fischer, um eine Häuserecke. Er bleibt stehen und sieht nach links und rechts, bevor er die Dorfstraße betritt, so als hätte er vor etwas Angst.
„Oh, hallo Primo“, sagt er. „Notch sei Dank, dass du da bist.“
„Was ist denn los?“, fragt Primo.
„Was los ist? Die Hühner sind los!“
„Die Hühner?“ fragt Primo verwirrt.
„Erst gestern habe ich ein Huhn über diese Dorfstraße laufen sehen!“, erklärt Olum. „Und auf der Wiese neben der Schlucht war vorhin auch eins! Man ist seines Lebens nicht mehr sicher! Ich weiß wirklich nicht, wozu wir einen Dorfbeschützer und einen Golem haben, wenn ihr angesichts der Gefahr bloß untätig herumstolziert.“
„Was hast du denn auf einmal gegen Hühner?“, will Primo wissen.
„Was ich gegen Hühner habe? Frag lieber, was die Hühner gegen mich haben!“
„Aber die tun dir doch nichts!“
„Das sagst du so! Aber Birta ist von einem Huhn in die Schlucht geschubst worden, oder etwa nicht? Wer weiß, was diese Monster mit ihren gefährlichen Schnäbeln noch alles anstellen können. Da gehe ich lieber auf Nummer sicher!“
Primo seufzt. Olum hat recht: Der böse Enderman Artrax wurde in ein Huhn verwandelt und hat in dieser Gestalt versucht, im Dorf Zwietracht zu säen. Fast wäre es ihm gelungen, einen Krieg mit dem Wüstendorf anzuzetteln. Doch mit Hilfe des Detektivs Schörlock wurde er entlarvt und aus dem Dorf vertrieben. Seitdem ist nichts Schlimmes mehr passiert. Doch die Dorfbewohner sind offensichtlich immer noch nervös.
„Sag mal, Olum, hast du auch manchmal Schwierigkeiten, die Frauen zu verstehen?“, fragt Primo.
„Die Frauen? Nein. Aber ich habe Probleme, die Fische zu verstehen.“
„Die Fische?“
„Ja. Du weißt schon, diese Art, wie sie dich manchmal ansehen, ohne etwas zu sagen. Irgendwie vorwurfsvoll und mitleidig zugleich.“
Primo nickt. Genauso guckt Golina manchmal.
In diesem Moment erklingt lautes Gackern und wütendes Gebell. Paul, der Wolf, jagt ein Huhn die Dorfstraße entlang. Als Olum das Tier erblickt, schreit er vor Schreck auf und springt an Asimov hoch, um sich in Sicherheit zu bringen. Dabei schubst er Mina, die Katze, vom Kopf des Golems, so dass sie fauchend auf Primo landet.
Paul lässt von dem Huhn ab, das gackernd davonläuft, und springt stattdessen an Primo hoch. Mina, die Katze, sitzt auf seinem Kopf und faucht den Wolf an, während Olum auf Asimovs Schultern hockt.
In diesem Moment kommen Primos Sohn Nano und Kolles Tochter Maffi die Dorfstraße entlang. Offenbar ist der Unterricht bei Birta gerade zu Ende.
„Typisch Erwachsene!“, stellt Nano fest. „Dauernd sagen sie dir: tu dies nicht, lass das sein, und wenn man gerade mal nicht guckt, dann machen sie selber Quatsch.“
„Dürfen wir mitspielen?“, fragt Maffi.
„Paul, aus!“, brüllt Primo, doch der Wolf hört nicht auf ihn.
„Ich sag’s ja“, meint Asimov. „Ihr verblüfft mich immer wieder.“
Nachdem die Hühnergefahr überstanden ist, klettert Olum von Asimov herunter, so dass Mina wieder auf seinen Kopf springen kann. Nano spielt mit Paul Stöckchenwerfen und Primo kann endlich wieder seiner Aufgabe als Dorfbeschützer nachkommen.
Mit festen Schritten schreitet er die Dorfstraße entlang und hält nach verdächtigen Hühnern und anderen Gefahren Ausschau, doch alles scheint ruhig zu sein.
Als er die Wiese neben der Schlucht erreicht, sieht er zwei vertraute Gestalten den Fluss durchqueren. Erfreut läuft ihnen entgegen.
„Willert! Ruuna! Schön, euch zu sehen!“
„Halt den Schnabel, du hässliches Vieh, oder ich koche Suppe aus dir!“, krächzt Robinson, der Papagei, der hinter der Hexe her flattert. „Kabumm! Oh, das war wohl die falsche Zutat!“
„Hallo, Primo“, sagt Willert. „Wie geht es dir?“
„Ganz gut eigentlich.“
„Ganz gut, eigentlich?“, fragt Ruuna nach. „Das ist nicht gut genug! Es sollte dir prächtig gehen! Grandios! Fantastisch! Phänomenal! So wie mir, außer wenn gerade mein Labor explodiert ist.“
„Ist denn dein Labor schon wieder explodiert?“
„Nein, wieso?“
„Kabumm!“, krächzt Robinson. „Oh nein, nicht schon wieder!“
„Bedrückt dich denn irgendetwas?“, fragt Willert. „Oder machst du dir irgendwelche Sorgen? Wegen Artrax vielleicht?“
„Nein“, erwidert Primo. „Der traut sich nicht mehr in die Nähe des Dorfs, seit er ein Huhn ist und Paul auf ihn Jagd macht. Jedenfalls habe ich ihn schon länger nicht mehr gesehen. Jetzt, wo wir wissen, dass er wie ein Huhn mit violett leuchtenden Augen aussieht, kann man ihn ziemlich leicht erkennen.“
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