Natale Bianchi schaffte es, eine Demonstration zu organisieren, an der auch Bürger des »anderen« Gioiosa Jonica teilnahmen, jene nämlich, die so dachten wie Rocco Gatto und die nach dem Mord den Mut fanden, auf die Straße zu gehen. Vor allem aber bestand die Demonstration aus uns jungen Leuten von den linken Jugendvereinen sowie anderen politisch Engagierten aus den umliegenden Dörfern. Wir waren nicht viele, aber wir waren entschlossen, die Botschaft dieses bescheidenen Mannes weiterzutragen: Ein Mensch, dem seine Würde etwas bedeutet, beugt sich nicht vor denen, die den Tod verbreiten.
Drei Jahre später kam der italienische Präsident Sandro Pertini in die Locride, um Roccos Familie die Goldmedaille für zivile Tapferkeit zu verleihen. Dennoch ist ihm nie volle Gerechtigkeit widerfahren: Die mutmaßlichen Mörder konnte man zwar ermitteln, Mario Simonetta und Luigi Ursini vom Ursini-Clan, und sie wurden später wegen schwerer Erpressung zu sieben und zehn Jahren Haft und einer Geldstrafe von zwei Millionen Lire verurteilt. Von der Anklage des Mordes aber wurden sie aus Mangel an Beweisen freigesprochen.
Einer der Märtyrer im Kampf gegen die Mafia und eine zentrale Bezugsfigur für die kalabrische Linke war Peppe Valarioti. Er stammte aus einer einfachen Bauernfamilie in Rosarno, doch durch seine Zielstrebigkeit schaffte er es, zu studieren und Gymnasiallehrer zu werden. Er war hochgebildet und hatte eine große Leidenschaft für alte Geschichte, weshalb er oft bei archäologischen Ausgrabungen in der Region mitarbeitete. Und er war ein Freigeist, was in seinem Fall bedeutete, dass er eine Provokation für die ’Ndrangheta darstellte, die die Alleinherrschaft darüber haben wollte, in welche Richtung sich die süditalienische Gesellschaft entwickeln sollte.
Mitte der 1970er-Jahre wurde Valarioti Vorsitzender der Kommunistischen Partei PCI (Partito Comunista Italiano) und anschließend Stadtrat in Rosarno. Voller Tatkraft machte er sich daran, dem schlechten Ruf der örtlichen Politik zu begegnen, indem er sich für die Rechte der Landarbeiter und den Fortschritt von Freiheit und Gerechtigkeit einsetzte. Es war eine Zeit des starken Wandels für die Region: Man war gerade dabei, mit den Arbeiten für den Bau des Hafens von Gioia Tauro zu beginnen, der einer der größten und meistgenutzten Häfen Europas werden sollte. Auch die ’Ndrangheta wartete schon mit Spannung auf ihn, und bis heute ist er für den Drogenschmuggel von allerhöchster Bedeutung.
Der Kampf gegen die ’Ndrangheta war für den PCI von Rosarno eines der drängendsten Probleme, und an der Seite Valariotis kämpfte sein Freund und Namensvetter Peppino Lavorato. Im Mai 1980 konnten die beiden einen unerwarteten Wahlsieg feiern, denn eine beträchtliche Anzahl der Bürger von Rosarno schenkte der Kommunistischen Partei ihr Vertrauen und votierte damit gegen die althergebrachte Überzeugung, dass sich in dieser geschundenen Region nie etwas ändern würde. Der Wahlkampf war jedoch von einer langen Reihe von Einschüchterungsversuchen und Schikanen gegenüber den beiden Politikern begleitet, und man hatte unter anderem Lavoratos Auto und den Parteisitz des PCI in Brand gesteckt.
»Genossen, das haben wir uns wirklich verdient«, sagte Valarioti bei dem gemeinsamen Abendessen anlässlich ihres Wahlsiegs am 11. Juni 1980 im Restaurant La Pergola bei Nicotera zu seinen Mitstreitern. Doch dann, beim Verlassen des Restaurants, wurde er aus einem Hinterhalt von zwei Schüssen aus einem Jagdgewehr niedergestreckt. Valarioti starb in den Armen seines Freundes Lavorato, noch auf dem Weg ins Krankenhaus, im Alter von nur 30 Jahren. Peppino Lavorato führte sein Erbe weiter und wurde später Parlamentsabgeordneter (1987–1992) und Bürgermeister von Rosarno (1994–2003).
Peppino Lavorato gehört zu den Menschen, denen ich mich für den Rest meines Lebens tief verbunden fühle. Er hatte immer schon die außergewöhnliche Fähigkeit, seine Leidenschaft auf andere zu übertragen und sie mit seinem unbeirrbaren Engagement anzustecken. Seine persönliche Betroffenheit durch den Tod Valariotis, seine unbedingte Ehrlichkeit und Authentizität haben ihm in seinem Amt als Bürgermeister, in dem er sich sehr für die Rechte der Landarbeiter einsetzte, besondere Glaubwürdigkeit verliehen. Aufgrund seines hohen Alters ist er heute nicht mehr aktiv in der Politik tätig, aber er ist als streitbarer Mahner immer noch nicht verstummt und der Mission der Linken immer treu geblieben. Sehr früh schon hat er sich auch auf die Seite der Migranten gestellt, die heute den Platz der ehemals kalabrischen Landarbeiter eingenommen haben und auf den Tomaten- und Gemüsefeldern ausgebeutet und erniedrigt werden.
Manche sagen, der Mord an Valarioti sei der erste politische Mord der ’Ndrangheta gewesen, das erste unmissverständliche Signal der Mafia an die Politik, »auf ihrem Platz zu bleiben«. Auf jeden Fall aber war er nur der Anfang, denn schon zehn Tage später wurde ein weiterer kommunistischer Politiker erschossen – Giannino Losardo, Stadtrat von Cetraro, in der Provinz Cosenza.
Trotz der zahlreichen Proteste und Demonstrationen nach seinem Tod konnten Valariotis Mörder nie zur Rechenschaft gezogen werden. Der Prozess dauerte elf Jahre, doch trotz unzähliger Aussagen von »Pentiti«, 20die auch von einer Unterwanderung lokaler Genossenschaften durch die ’Ndrangheta berichteten, trotz aller verschwundenen Aktenordner und trotz aller Unterbrechungen und Neuaufnahmen des Prozesses kam es letztendlich zu keiner Verurteilung. Dabei gab es einen nur allzu begründeten Verdacht gegen die ’Ndrine Pesce und Piromalli, die zu den mächtigsten ’Ndrangheta-Clans überhaupt gehören.
Natale Bianchi ist noch heute vielen bekannt als mutiger und rebellischer Priester, der sich beherzt gegen die ’Ndrangheta gestellt hat. Er hatte die Kraft, die Kirche herauszufordern, oder jedenfalls den Teil davon, der nur auf sich selbst und seine Hierarchien zurückgeworfen ist, der beharrlich die Augen schließt, statt Position zu beziehen, wo dies nötig ist. Er war immer unbequem, und so war es nicht verwunderlich, dass man ihn 1975 aufforderte, seine Pfarrei San Rocco in Gioiosa Jonica aufzugeben. Er hat sich lange widersetzt und wurde dabei von vielen Gemeindemitgliedern unterstützt, die sogar die Kirche besetzt hielten, bis sie von den Carabinieri gezwungen wurden, sie zu verlassen. Hinzu kam, dass er keinen Hehl aus seiner Unterstützung des Referendums für das Recht auf Scheidung machte, was letztendlich zu seiner Suspension a divinis führte, die im Kirchenrecht Kleriker aus dem aktiven Priesterdienst ausschließt. Ich persönlich glaube, dass bei der Entscheidung, einen so bekannten Repräsentanten des Ideals der sozialen Gerechtigkeit aus dem Kirchendienst zu verbannen, auch Don Stilo seine Finger im Spiel hatte. Natale selbst erinnert sich noch gut, wie Stilo ihn sich eines Tages zur Brust nahm und ihm ins Gesicht schrie: »Du weißt nicht, wer ich bin, selbst die Steine hier kennen mich. Du bist für mich wie ein Ameise, und wie eine Ameise kann ich dich zerquetschen.«
Natale hat sich nicht einschüchtern lassen, nicht einmal durch die Suspendierung. Er fährt zwar manchmal in seine Heimat Varese in den Norden, um dort seine Familie zu besuchen, doch ist er trotz allem in der Locride geblieben. Seit Jahrzehnten lässt er sich seinen Glauben an diese Region nicht nehmen, indem er sich etwa auch für Genossenschaften einsetzt, die eine echte Alternative zur Ausbeutung durch die ’Ndrangheta und die mit ihr verbundenen Unternehmen darstellen. Für viele von uns bleibt er bis heute Ansporn und Inspiration.
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