Lotte Schwarz - Die Brille des Nissim Nachtgeist

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Lisette, eine junge Hamburgerin, emigriert im Sommer 1934 aus politischen Gründen nach Zürich, wo sie Arbeit und Unterkunft in der Pension Comi findet. Diese wird vom russisch-jüdischen Ehepaar Paksmann geführt, das einst selbst geflüchtet ist und sich den immer zahlreicher eintreffenden Flüchtlingen verbunden fühlt.
In der Pension kommt auch Nissim Nachtgeist unter, Jurastudent aus Deutschland, der gerne Schauspieler geworden wäre und nun illegal Schweizer Berufsmäntel näht. Aber auch Signora Teresa mit den leuchtenden roten Haaren, Jüdin und ausgestossen aus der Kommunistischen Partei, Oberregierungsrat Eiser, der alle, die nach ihm angekommen sind, als persönliche Bedrohung empfindet und Vicky, «eine Achteljüdin» aus dem Rheinland, die samstags die Damen der Pension mit einer Schönheitspflege verwöhnt, leben hier.
Die Pension Comi hat es tatsächlich gegeben, und Lotte Schwarz erzählt die Geschichten der Menschen, die dort Vertreibung und Krieg zu überstehen und jene im Gastland geforderte seelische Schwerarbeit zu leisten versucht haben: «Hoffen, warten, dankbar bleiben.»

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Lisette, eine junge Hamburgerin, emigriert im Sommer 1934 aus politischen Gründen nach ­Zürich, wo sie Arbeit und Un­ter­kunft in der ­Pension Comi findet. Diese wird vom russisch-jüdischen Ehepaar Paksmann geführt, das einst selbst geflüchtet ist und sich den immer zahl­reicher eintreffenden Flüchtlingen verbunden fühlt. In der Pension kommt auch Nissim Nachtgeist unter, Jurastudent aus Deutschland, der gerne Schauspieler geworden wäre und nun ­illegal Schweizer Berufsmäntel näht. Aber auch ­Signora Teresa mit den leuchtenden roten Haaren, Jüdin und ausgestossen aus der Kommunistischen Partei, Oberregierungsrat Eiser, der alle, die nach ihm angekommen sind, als ­persönliche Bedrohung empfindet und Vicky, «eine Achtel­jüdin» aus dem Rheinland, die samstags die ­Damen der Pension mit einer Schönheitspflege verwöhnt, leben hier.

Die Pension Comi hat es tatsächlich gegeben, und Lotte Schwarz erzählt die Geschichten der Menschen, die dort Vertreibung und Krieg zu überstehen und jene im Gastland geforderte seelische Schwerarbeit zu leisten versucht ­haben: «Hoffen, warten, dankbar bleiben.»

Lotte Schwarz 19101971 wuchs in einer sozialdemokratischen Arbeiterfamilie - фото 1

Lotte Schwarz (1910–1971), wuchs in einer sozialdemokratischen Arbeiterfamilie in Hamburg auf. Erst Dienstmädchen, später Biblio­thekarin. Engagierte sich bei den Guttemplern, der Frauenbewegung und den antistalinistischen Roten Kämpfern. 1934 emigrierte sie in die Schweiz, wo sie zunächst wieder als Dienst­mädchen arbeitete. Von 1938 bis 1948 Biblio­­thekarin im Schweize­rischen Sozialarchiv in Zürich. Danach freiberuflich als Werbe­texterin und Autorin tätig.

Lotte Schwarz

Die Brille des Nissim Nachtgeist

Roman

Die Emigrantenpension Comi in Zürich 1921–1942

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Christiane Uhlig

Limmat Verlag

Zürich

In Abrahams Schoss

Die Ankunft stand im Zeichen der Geduld: «Pension Comi», sagte eine singende Stimme ins Telefon, «nein, Frau Paksmann ist noch nicht zurück aus dem Spital, bitte, wollen Sie sich noch einen Tag gedulden?»

Pension Comi – ein lustiger Name, der für meine Ohren ungarisch tönte. Ich verliess die Telefonkabine in der Bahnhofshalle, nahm meinen Koffer und ging auf die breite Strasse zu, die Bahnhofstrasse, wie mir Paul gesagt hatte, und die direkt zum See führe.

Mit den Augen des Dienstmädchens sah ich, dass hier gepflegt wurde, was sich pflegen liess. Für die kommende Nacht musste ich ein billiges Hotel finden; woran sollte ich erkennen, dass es billig ist, wenn alle gleich sauber waren? Die Strasse verbreiterte sich gegen den See zu einem Park, in dem musiziert wurde. Ich war den freundlichen Tönen, die mir nun in den Melodien der Barcarole entgegen kamen, schon eine Weile gefolgt. Um einen erhöhten, überdachten Pavillon standen viele Leute, die den Musikern und ihrem wippenden Dirigenten Beifall klatschten. Das Klatschen glich dem knatternden Anflug von Tauben. Ich zögerte, mich unter die Leute zu mischen, und steuerte auf eine Bank zu, die etwas entfernt stand. Die Bank stand vor grossen, mit Buchsbaum bepflanzten Beeten, in die ein findiger Gärtner – in Buchsbaumbuchstaben – «Nationalbank» geschnitten hatte.

… Schöne Nacht, o Liebesnacht, o …, auf den Beifall hin wiederholten die Musiker die Melodien aus «Hoffmanns Erzählungen». Wie schwer mein Koffer war, merkte ich erst, als ich ihn abstellen konnte. Über die Leute hinweg, vorbei an dem kunstvoll geschwungenen Dach des Musikpavillons, sah ich eine blaue Hügelkette, die einem Tierrücken gleich ausgestreckt am Himmel lag. Das ist Berlin, dachte ich, mein Berlin – seit meiner Kindheit war Berlin ein ferner blauer und langgestreckter Dunstzug am Horizont –, ich hatte Berlin nie gesehen.

Die Reise war lang gewesen, ich hatte nur wenig geschlafen. Hatte ich die Augen geschlossen, wollte es mich anfall­artig erdrücken. Ich schaute auf die Leute. Im Koffer musste noch ein Stück Brot sein. «Wenn du es isst, wird es Hasenbrot sein, dann bist du schon weit von uns fort», hatte die Mutter gesagt und mit erstickter Stimme hinzugefügt: «Verfluchen werde ich diesen Menschenjäger.» Ihr Weinen hinter der Brille, die ihre Augen immer vergrösserte, war wie ein Regen im Zimmer gewesen. Bevor ich um die Strassenecke bog, hatte ich noch einmal zurückgeschaut, starr war sie am Fenster gestanden, die Hand zu einem schwachen Winken erhoben.

Mein Bruder Hans hatte mir den Koffer getragen und mich auf den Bahnhof begleitet. Er war arbeitslos. «Mach’s gut», sagte er, nachdem er den Koffer ins Gepäcknetz befördert und mich umarmt hatte. Es war das erste Mal, dass er mich umarmte. Um alles zu überstehen, hatte ich geschäftig mit meinem Mantel hantiert und einen Haken dafür ­gesucht. Ich sollte nicht aus dem Fenster des Zuges schauen und er sich nicht umdrehen, so hatten wir es abgemacht. «Wurst ist nicht gut aus der GEG, ist Massenware, Wurst ­kaufe ich lieber bei Petersen», war Mutters Devise. Damit meine Finger von Petersens Jagdwurst nicht fettig wurden, hielt ich die Doppelschnitte zusammen mit dem Papier, in das die Mutter das Brot eingewickelt hatte. GEG war in markigen, roten Buchstaben auf das Papier gedruckt, worin das gekaufte Brot stets eingeschlagen wurde. GEG, Grosseinkaufgenossenschaft von Hamburg und Umgebung. Meine Mutter bewahrte das Papier auf, faltete es zusammen und legte es in den weissen Küchenschrank, der ein Stolz der ­Familie war. Der Schrank war das Gesellenstück von Walter, meinem älteren Bruder. Auch Walter war arbeitslos. Vorbei die Zeit, in der er, noch in der Tischlerlehre, nach Feierabend ein fertiggestelltes Schlafzimmer auf die schottische Karre lud, um die Fracht von der Steilshoperstrasse in Barmbek zum Möbelhändler Schulz nach Wilhelmsburg, Vogelhüttendeich, gegen ein Trinkgeld und ein gutes Abendbrot abzuliefern. Das pergamentartige Papier von der GEG war vom Falten und Zusammenlegen schon etwas mitgenommen, und die zerknitterten Ränder stachen mir ins Gesicht. Ich konnte mich verstecken hinter dem Papier; niemand konnte mein Gesicht sehen, die GEG stand dicht vor meinen Augen, aber die selbstbewussten Buchstaben in Rot sackten zusammen, und ein nasser Schleier rückte sie in graue Ferne.

«Du wirst es schwer haben», hatte Paul gesagt, «die Österreicher sind angesehener im Ausland … schliesslich haben sie sich gewehrt.» Ich sah Paul zum letzten Mal im Hotel Hansa. Sein Zimmer war übersät mit Büchern und Buch­umschlägen – damals bereiste er noch als Vertreter eines Verlages das Ausland. Er kannte die Pension Comi in Zürich.

Ich hoffte, Arbeit zu finden. Hoffte auch, dass Pauls Empfehlung mithalf. Ausserdem reiste ich zu einer Zeit in dieses Land, in der alle deutschen Dienstmädchen aufgefordert worden waren, heimzukehren ins Reich.

Der Preis des Hotels betrug Fr. 9.50, aber mit Frühstück. Ich gab meinen Pass einem freundlichen Mann, der hinter einer Art Theke sass und eine grüne Schürze trug. Während er mit meinem Koffer die Treppen hinaufstieg, klapperte bei jedem seiner Schritte ein Schlüsselbund.

Der Mann, über dessen grüne Schürze in weisser Zeile «Limmathaus» lief, gab mir den Rat, noch ein wenig die Stadt anzuschauen. Es schien ihm zu früh, um schon schlafen zu gehen. Ich hätte Zeit gehabt und nichts zu tun, doch legte sich die Müdigkeit in ihrer ganzen Last auf mich.

Ich hatte noch ein Paket Langnese-Keks. Mit «Lang­nese» stieg mir jener schwere, süsse Geruch in die Nase, der über unserer Wohngegend in Hamburg lag. «Du kannst ja zu den Keksmäusen gehen», hiess es, wenn ich in der Schule nicht lernen wollte. Die Keksmäuse, nach Kakao riechende Arbeiterinnen aus der Keksfabrik Langnese, waren in un­serer Gegend auch Uhrenersatz. «Ach, schon Viertel nach fünf», eilig begann meine Mutter das Essen vorzubereiten. Die heimwärts strebenden, schweigenden Keksmäuse zogen mit irgendeiner Tasche am Arm an unserer Wohnung vorbei. Wir nannten diese Taschen Zampelbeutel, ähnlich jenem Sack, den die Hafenarbeiter trugen. In den Zampelbeutel kam alles hinein, was sie als herrenlose Fracht betrachteten und darum nach Hause mitnehmen durften. Sie hatten ein Einheitsmass von Holz bis zu den Bananen. Die Brüder waren zwar der Meinung, dass die Keksmäuse Schokolade und so nicht mehr riechen könnten, «steht ihnen hier oben, sag ich dir». Walter schloss bei diesen Worten die Augen und machte einen Fingerstrich am Hals entlang, ein Grad an Sättigung jedenfalls, den wir drei Geschwister uns gar nicht vorstellen konnten.

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