Währenddessen schaute sich Tanner die jungen Mädchengesichter an. Das Gesicht des Mädchens allerdings, das ihn vor dem Teufel gewarnt hatte, fand er nicht unter ihnen. Tanner und Keller gingen zurück in die Küche, wo sich Keller von der ganzen Küchenmannschaft verabschiedete, denn er fuhr bereits heute Abend weg, da morgen sein Flug nach Kanada sehr früh starten würde.
Tanner war nun für den Rest des Abendessens allein mit der kleinen Küchenmannschaft. Der Service meldete, dass es absehbar keine weiteren Nachbestellungen für Kartoffeln und Käse geben würde, allerdings seien noch drei große Schüsseln Salat gewünscht. Die Sauce sei heute aber auch gar zu lecker.
Annerös und Lydia beglückwünschten Tanner lachend, der hatte nämlich unter den kritischen Augen Kellers ein paar eigenmächtige Veränderungen an der Fertigsauce vorgenommen. Mit einer kräftigen Portion Honig und Holundersirup und einigen Brisen weiterer Gewürze.
Also entweder nur Öl, Essig, Pfeffer und Salz oder dann schon richtig.
Keller hatte nur mit den Schultern gezuckt.
Ab morgen machen wir die Sauce von Grund auf selber. Einverstanden?
Die beiden Frauen nickten. Der Stumme lächelte.
Nach dem Essen kam Teresa Wunder in die Küche und nahm Tanner beiseite.
Werden Sie es mit der kleinen Mannschaft schaffen? Keller meckerte immer, dass er mehr Leute brauchte.
Nein, nein, das geht schon in Ordnung. Die Mannschaft ist gut. Man muss sie nur selbständig machen lassen.
Sie nickte.
Gut zu wissen. Danke. Ach ja, Frau de Klerk wünscht Sie noch zu sprechen. So gegen zehn in ihrem Salon.
Sie guckte auf die Uhr.
Dann müssten Sie ja hier fertig sein. Schaffen Sie das?
Tanner nickte und runzelte die Stirn.
Es tut mir leid, ich weiß nicht, was sie will. Sie schien irgendwie verärgert zu sein. Weswegen weiß ich nicht. Nehmen Sie es gelassen.
Entschuldigen sie, Teresa, man hat mir gesagt, dass Frau de Klerk schon sehr alt sei? Aber das kann doch nicht diese Frau sein, die Sie mir vorgestellt haben?
Teresa lachte.
Also, wie alt sie genau ist, weiß niemand, aber sie ist deutlich älter als sie aussieht. Tja, ich wüsste auch gerne, wie sie das macht. Sie ist ein Phänomen. Vielleicht ein Naturwunder?
Tanner nickte.
Ja vielleicht. Dann gute Nacht.
Gute Nacht.
Er blickte ihren geschwinden Schritten nach.
Frau de Klerk verärgert?
Er zuckte die Achseln, drehte die Gashähne zu und machte noch einmal eine Sauce für die drei Schüsseln Salat, die von Annerös vorbereitet wurden.
Kurz nach zehn klopfte er leise an die Tür von Frau de Klerks Zimmer. Zuvor hatte er sich vergewissert, dass alle anderen Türen, auch die einer gewissen L. Dürr, nicht etwa zwecks Lauschens halb geöffnet waren. Das Weiße Schloss lag in tiefer Ruhe. Er klopfte noch einmal und drückte dann nach drei Atemzügen die Klinke. Die Tür war nicht abgeschlossen. Er öffnete sie. Der Raum lag vollkommen im Dunkel.
Machen Sie die Tür zu und kommen Sie rein. Ich sitze hier am Fenster.
Er schloss die Tür und blieb einen Augenblick stehen. Seine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit. Er sah sie als dunkle Silhouette am Fenster sitzen.
Kommen Sie schnell. Ich möchte Ihnen etwas zeigen. Nehmen Sie Platz. Neben mir ist ein Stuhl.
Sie klopfte mit ihrer Linken auf einen Polsterstuhl. Tanner setzte sich.
Schauen Sie. Jetzt geht gleich der Mond auf.
Tanner war verblüfft. Der See leuchtete matt, als ob es an seinem Grund eine Leuchtquelle gäbe. Am dunklen Firmament leuchteten nur ein paar vereinzelte Sterne.
Sie zeigte auf eine tiefe Kerbe zwischen zwei hohen Gipfeln.
Dort. Schauen Sie. Dort wird er gleich erscheinen.
Sie hatte recht. Ein kalt glühender Goldschimmer hatte sich bereits an die Ränder dieser Kerbe gelegt, als ob jemand mit einem Goldstift den schwarzblauen Bergrändern nachgefahren wäre.
Dann erschien der Mond. In einem unglaublichen Tempo schob sich die leuchtende Scheibe zwischen den Bergen hinauf. Ein gigantisches Spektakel.
Er ist noch nicht voll, sehen Sie. Das wird erst am nächsten Freitag der Fall sein.
Wenn der Herr Direktor zurückkommt, schoss es Tanner durch den Kopf.
Er betrachtete ihr Profil. Sie betrachtete verzückt das Naturschauspiel. Diese Hingabe an die Schönheit der Natur verklärte ihr Gesicht und machte sie noch schöner und sehr weich.
Sie bemerkte seinen Blick. Und da war sie wieder – diese herrische Barschheit.
Schauen Sie nicht mich an! Schauen Sie die Natur an.
Sie schnaubte ungehalten, beruhigte sich aber gleich wieder.
Ist das nicht schön? Das ist die reine Poesie. Erhaben. Eigentlich ist der Mond ja eine Sie. La Luna. Aber in unseren Breitengraden ist er in Gottesnamen halt ein Mann. Und jetzt – schauen Sie – jetzt legt sich die Goldstraße aufs Wasser. Betrachten Sie die zitternden, diese sich fortlaufend verändernden Linien. Das ist göttliche Mathematik, finden sie nicht auch?
Tanner war überrascht. Er getraute sich aber nicht, sie erneut anzusehen.
Göttliche Mathematik?
Ja, betrachten Sie jetzt zum Beispiel auch die immer schärfer hervortretende Küstenlinie des Sees. Diese wellenförmig verlaufenden Linien. Das ist wie Kurven in der Mathematik. Wie die Kurven der Aktienbörse, Zufallskurven.
Sind Sie Mathematikerin?
Sie lachte.
Ich war Mathematiklehrerin, lange ist es her. Und heute beschäftige ich mich in den Morgenstunden mit Börsengeschäften, so ab vier Uhr, verstehen Sie. Wenn alle anderen noch schlafen, außer der weltweiten Börse – die ist quasi rund um die Uhr wach.
Und? Gewinnen Sie?
Sie drehte sich zu ihm.
Ja. Stellen Sie sich vor. Ich gewinne – und wie. Wahrscheinlich, weil ich nichts mehr zu verlieren habe. Wovor sollte ich Angst haben?
Sie lachte ihr raues Lachen.
Und wenn ich gewonnen habe, schlafe ich selig wieder ein.
Und am Nachmittag? Was machen Sie da? Spielen Sie weiter?
Nein.
Sie stand mit einem Ruck auf.
Geben Sie mir ihre Hand.
Tanner stand auf und reichte ihr die Hand.
Sie sollen mir nicht Auf Wiedersehen sagen, sie sollen mich stützen, ich will ins Bett.
Tanner stützte sie. Sie hatte angenehme Hände. Zart geradezu, wenn man an ihre raue Stimme dachte.
Sie ging sehr bestimmt und fast leichtfüßig. Tanner fragte sich, warum sie seine Stütze brauchte.
Ich kriege manchmal Schwindelanfälle, die kommen leider ohne Ankündigung.
Konnte sie Gedanken lesen?
Sie waren jetzt bei ihrem großen Himmelbett angekommen.
Nehmen Sie meinen Morgenmantel.
Das war keine Bitte, das war ein Befehl. Er trat hinter sie und griff nach dem schweren Mantel an seinem umgelegten, weichen Kragen. Sie schlüpfte aus den Ärmeln. Sie stand wortlos da, als lauschte sie auf etwas. Dann streckte sie ihre schlanken Arme nach ihren Haaren aus.
Da Sie mich heute schon mal ohne meine Haare gesehen haben, spielt es jetzt auch keine Rolle mehr. Ich gebe Ihnen die Nadeln in die Hand.
Sie zupfte einige Nadeln aus dem Haar und nahm ihre voluminöse Haarpracht ab. Ihre blonden Haare waren also tatsächlich eine Perücke. Sie legte sie behutsam auf den Stuhl neben ihrem Bett. Sie hatte ein sehr zartes Nachtgewand an. Der Mond schien jetzt in das Zimmer, und so schimmerte sehr zart die Silhouette ihres Körpers durch den leichten Stoff. Der Stoff war kunstvoll und fein mit zarten Rosen bestickt. Es sah fast hochzeitlich aus. Ihr Körper wirkte wie Elfenbein. Er konnte nicht umhin, sie, die sich dem Fremden, so selbstverständlich präsentierte, anzustarren. Oder war ihr vielleicht die Wirkung des Mondlichts nicht klar?
Sie lachte ein raues Lachen.
Sie müssen sich nicht abwenden. Was gibt es für eine Frau Schöneres, Aufregenderes als der Blick eines Fremden? Dieser Blick wird durch kein Wissen, keine irgendwie gelagerte Vorgeschichte getrübt. Es gibt keine emotionale Verwicklung. Keine Belastung. Es gibt nur das Staunen über die Schönheit ihres Körpers. Es ist quasi ein unschuldiger Blick, der sich einfach am Sehen erfreut. Und dann zum Begehren wird.
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