Moment mal, das trifft vielleicht nicht ganz zu. Wenn zum Beispiel ein Hochverräter hingerichtet wird, dann müssen sie ihm Beistand leisten. Im letzten Kriege war das siebzehn Mal der Fall. Der Verurteilte soll ordnungsgemäss zum Tode geleitet werden. Gut also – aber ich komme jetzt nicht mehr drauf, wieviel die Berner und die Zürcher Sammler damals für einen mit Stempeln versehenen Degen eines Militärgeistlichen bezahlten. Einer besorgte sich die Liste sämtlicher Feldprediger und machte damit im ganzen Land die Runde.
Nur eine einzige Stadt liess er aus, nämlich Cham.
In Cham bei Zug war bisher alles glatt gegangen, das Geschäft war so gut wie perfekt, als der ältere Bruder des Militärgeistlichen dazwischentrat, der in der kirchlichen Hierarchie einen weit höheren Rang einnahm. Der Militärgeistliche ist im zivilen Leben Probst und hat immerhin das Recht auf den Titel Monsignore. Der Bruder aber war als junger Missionar ausser Landes gegangen, war in irgendeiner afrikanischen Wüste im Handumdrehen Erzbischof geworden und lebte jetzt im wohlverdienten Ruhestand, war rundlich und voll blühender Gesundheit, las die Messe mit Krummstab und weissen Handschuhen. In den Homilien sprach er lobend von der Gottesfurcht der Schwarzen, im Gegensatz zur Schamlosigkeit unserer ausschweifenden Jugendlichen, die wahrhaft Heiden seien. Doch werde Europa das zu spüren bekommen, und zwar bald.
Als ihm nun dieser angebliche Heimatforscher in die Hände fiel, in dem er sofort den Geschäftsmann witterte, kanzelte er ihn empfindlich ab und liess ihn vor die Tür setzen. Ein weiterer Entrüstungssturm entlud sich über dem unvorsichtigen Bruder, der ja Heereskaplan war: das Schwert, das die Heimat verteidigt hat, verkauft man nicht.
Nein, ein Offiziersdegen ist kein Soldatenkoppel, das dem Bauern dazu dient, sich den Hosenlatz zu schliessen oder den Wetzsteinbehälter mit seinem guten Wetzstein um die Hüfte zu schnallen.
Was den Degen betrifft, da heisst es Nein. Sonst wären wir bald so weit, das Réduit der Nation an den Meistbietenden zu verkaufen.
Alles hat seine Grenzen! Stellen Sie sich eine Anzeige im «Bund» von 1990 vor: zu verkaufen vier oberstleutnants, oder eine im Jahre 2000: grosse versteigerung von vier festungen mit brigadier, und endlich wird im Jahr 2020 in den bedeutendsten Zeitungen Europas zu lesen sein: WÄHLT FÜR EURE FERIEN EINEN SCHAUERLICHEN ORT, DAS REDUIT DER SCHWEIZ!
Nein, wenn die Publizität die Seele des Handels ist und der Handel die Seele der Nation, dann werden wir uns wohl schliesslich fragen müssen: «Was ist die Nation?»
Sbrinz schwieg, als ob er eine Antwort erwartete.
Dann wechselte er das Thema.
«Ein Mann wie Sie müsste sich einmal ein Heeresarchiv ansehen!»
«Beim nächsten Besuch will ich das gerne tun, aber nur mit Ihnen als Führer.»
Inzwischen konnte ich es mir als eine Art Archiv des Himmelreichs vorstellen. Wie viele Protokollblätter werden im Paradiese abgeheftet? Wie viele Anlagen? Wenn keines unserer Worte, keine unserer Taten, nicht einmal mein Schwätzchen mit Sbrinz verlorengeht und alles einst im Tale Josaphat wieder präsentiert werden muss, wenn der grosse Abrechnungstag der himmlischen Archivare hereinbricht!
Ich vermute, dass der Chef, der Sankt Peter der Archivare, ein Mann wie Sbrinz sein wird. Es könnte ja nicht nur die Türkei allein unser Zivilgesetzbuch übernommen haben. Auch der Himmel könnte von uns lernen. Oder nehmen sie dort oben alles auf Band auf? Auf Mikrofilm? Oder verfügen sie dort über andere, völlig fremde Mittel, die unsere armselige Vorstellungskraft übersteigen?
Die ganze Kette der Worte, die von der frühesten Kindheit bis zum Tode ausgesprochen werden, verdichtet in einem einzigen Tropfen Blut, sterilisiert, in einem Bläschen wie jenes über Sbrinz’ rechtem Auge ...
Und plötzlich stellte Sbrinz eine andere Frage:
«Haben Sie den General gekannt?»
«Gewiss, ich habe ihn mehr als einmal gesehen. Wir waren auf dem Dorfplatz, bei Fackellicht, als er mit anderen hohen Offizieren oben auf einer Treppe erschien. Er sprach französisch und deutsch. Und als er sich auch dazu herabliess, uns in der dritten Landessprache zu begrüssen, bekamen mein Cousin und ich plötzlich einen Schrecken. Er betonte nämlich falsch und sagte ‹cari giovàni› anstatt ‹cari giòvani›, sodass mein Cousin Giovanni glaubte, er habe ihn gerufen. Ein andermal haben wir ihn gesehen, als er an die Grenze kam.»
«Als er an die Grenze kam?», unterbrach Sbrinz aufgeregt. «Er inspizierte alles und ermunterte die Soldaten. Wir befinden uns sehr im Irrtum, wenn wir glauben, ein General sei nur in Kriegszeiten nötig. Wer führt uns, wer stärkt uns in der Zeit zwischen den Kriegen? Darf ich Ihnen etwas im Vertrauen sagen? Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, aber ich denke manchmal – und auch meine Frau ist derselben Meinung –, dass es auch seine guten Seiten hätte, wenn der Krieg nie gänzlich aufhörte, wenn er um uns herum weiterginge, weniger heftig natürlich und mit sauberen Waffen, aber doch ständig weiterginge. In unserem Lande, verstehen Sie, würde der nationale Zusammenhalt gestärkt, und wir hätten den General immer unter uns.»
IV ELEKTRIZITÄTSWERKE
Der Würfel rollte, und um ein Haar hätte ich 1 geworfen, was Gefängnis bedeutet; aber Gott Merkur muss ihm noch einen kleinen Stoss versetzt haben, und so erschien die 3, also Elektrizitätswerke.
In unserer Sprache südlich des Gotthard haben wir gar kein Wort dafür, wir gebrauchen das deutsche. Wie schon Poggio im 15. Jahrhundert feststellen konnte – er weilte damals in Baden zur Kur –, dass die Deutschen das Wort Eifersucht nicht kennten, da sie nicht wüssten, was das sei, so geht es uns mit den Elektrizitätswerken. Unsere Gewässer fliessen fast alle hinüber ins Gebiet der Alemannen, und diese haben sie sich auf intelligente Weise nutzbar gemacht. So scheint es uns angemessen, das Wort aus ihrer Sprache zu verwenden und zu sagen: «Jetzt bin ich bei den Elektrizitätswerken angekommen.» Das Feld war – für Minderbegabte – mit einer metonymischen Glühbirne bezeichnet. Sie brannte.
Was den Schauplatz anbelangt, so befand ich mich hier in «quelque part» innerhalb jenes Alpengürtels, den die Verfasser der in den Schulen benutzten Geografiebücher unfruchtbares Land nennen und auf den Kartenblättern mit reichlich aufgetragener, grauer Farbe bezeichnen. Rote Farbe dagegen heisst Leben und bezeichnet die Mittellinie. Ein Besuch von wenigen Stunden in den Bergregionen – und in Begleitung von Sbrinz – dürfte das Gegenteil beweisen, wie ich selber erfahren habe. Wenn man über die Lage des «quelque part» keine ganz genauen Ortsangaben erhält, dann geschieht das nur darum, weil die Vorschrift lautet, über militärische Dinge strengstes Stillschweigen zu bewahren.
Wir haben zum Beispiel zahlreiche Soldaten auf der Erdkruste und im Berginnern angetroffen, die auf verschiedenste Weise produktiv waren. Auf verschiedenartigste Weisen, deren Sinn und Zweck dem Nichteingeweihten vielleicht nicht immer ganz klar geworden wäre. Ein Soldat, der am 10. Juli von Sbrinz darüber befragt wurde, was er mache, antwortete ihm, er suche Kleinholz für das Freudenfeuer am 1. August, unserem Nationalfeiertag. Es gibt ja immer gewisse Defätisten, die sich unterstehen zu protestieren, wie zum Beispiel jene vierundsiebzigjährige Alte, die bei der Rückkehr vom Stall, wo sie das Vieh versorgt hatte, die Dreistigkeit besass zu sagen, dass die Wachmannschaften der Bunker, die am Freitagabend wieder abzogen, ebensogut auch schon am Donnerstag oder am Mittwochabend hätten abziehen können – bei dem bisschen, was sie zu tun hätten.
Solchen Verleumdungen tritt man am besten entgegen mit dem Ausspruch des Professors Pareto von Lausanne, der sagt, dass «schon P. Scipio Emilianus dem an einem Aufstand beteiligten Gesindel vorgehalten habe, sie seien nicht einmal Italiener».
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