Das Sparschwein wird mit Münzen gefüttert, das Sparbüchlein mit Banknoten – jedes Ding zu seiner Zeit –, und die Häupter des Familienclans überweisen in regelmässigen Abständen; der Ritus der Zahlung wird eingehalten. Man ist den Kinderschuhen kaum entwachsen, hat man schon ein Vermögen auf dem Sparbuch. Der von der Bank verkündete Neopositivismus, der von fähigen Fachleuten für Public Relations glaubhaft vertreten wird, pflanzt ein neues Reis auf die alten Stämme der Rousseau, Pestalozzi und Claparède. Man erfährt nicht nur, dass die Erziehung des Menschen durch die Technik des Sparens etwa hundert Jahre vor seiner Geburt beginnt. Man lernt vor allem, dass es überaus wichtig ist, das neugeborene Kind von Anfang an, sobald seine gewaltige Lernfähigkeit sich zeigt, auf die richtige Bahn zu lenken: Sparsamkeit, Vorsorge für die Zukunft, Versicherung gegen die verschiedenartigsten Übel, Freude an gewissenhafter Arbeit, am ehrlichen Wettbewerb, technische Begabung, Fähigkeit zur Neuerung in der industriellen Produktion, Verantwortungsbewusstsein, Ent schei dungssicherheit, Führungskraft, Freude an gewinnbringender Tätigkeit. Alles im Zeichen eines gesunden Prinzips: Wer sich selber hilft, dem hilft Gott.
Durch diese Gedankengänge beflügelt, waren wir nun bereit, den Würfel rollen zu lassen. Ein Bote in kaffeebrauner Nestlé-Livree hatte sich dem Direktor der Nationalbank genähert, doch dieser zog es vor, den Start nicht weiter zu verzögern. Man war ja schon im Bilde, dass man in dieser Depesche allen Tochterfirmen den allzufrühen Tod des Albin Dash mitteilte, der durch einen Unglücksfall ums Leben gekommen war. Über Felsplatten war er abgestürzt, über marmorglatte, in Jahrtausenden abgeschliffene Gesteine – ein Sturz, in dem sich wie in rasendem Rücklauf sein steiler Aufstieg widerspiegelte, seine triumphale Karriere von einem Posten zum anderen, unaufhaltsam nach oben bis hin zum Sessel des ersten stellvertretenden Generaldirektors. Und jetzt dort unten, im sprudelnden Wasser, mit aufgerissenen Augen, ausgestreckten Händen – mit welchen Gedanken? An den höchsten Posten, der sich hoffnungslos in der Ferne verlor? An die Mutter? An den Grossvater Albin Dash Senior, dessen lebensgrosses Porträt wie ein weltlicher Heiliger, streng und gerecht, im Vestibül über der Eingangstür – zwischen einem Rubens und einem Böcklin – aus dem Rahmen blickte? Oder dachte er an die erste Schlittenfahrt mit fünf Jahren in den Winterferien, den Fuhrweg entlang, der das Bergdorf von oben bis unten durchschnitt. An einem Mäuerchen kam der Schlitten plötzlich zum Stehen und versank in den hohen Schneewehen eines Gartens.
Oder dachte er an die Kombination des Panzerschranks, der mit geöffneten Türen im Bachgrund lag und darauf wartete, verschlossen und gesichert zu werden.
Der Direktor der Nationalbank verlas die Trauerbotschaft und bat darum, sich zu einer Schweigeminute zu erheben. Natürlich wusste er, dass man eine Minute sagt, dann aber im Geiste nur bis sieben zählt, sich bedankt und wieder Platz nimmt.
Er beschloss daher, bis zwanzig zu zählen, sodass alle den Eindruck hatten, die schmerzliche Stille dauere mindestens drei Minuten. Daraufhin sprach der Direktor der Nationalbank mit leiser Stimme, nur den zunächst Sitzenden vernehmlich, aus, was man in solcherlei Fällen zu sagen pflegt: das Leben fordere seine Rechte, das Leben gehe weiter.
Ja, es blieb uns nichts anderes übrig, als weiterzuleben: Der Würfel fällt, es gelten die Regeln des Fair Play, zuerst die Frauen, dann die Kinder. Ohne Rücksicht auf jene, denen es – wie Dash – verwehrt war, noch einmal zu würfeln – in Ewigkeit.
1 Anmerkungen siehe Seite 222 ff.
II SCHAFFHAUSEN
Die Reihe war an mir, ich war ein wenig erregt und liess den Würfel über die Spielfläche rollen: er zeigte drei Augen. Ich ging nach Schaffhausen. Nun konnte ich mich endlich an Ort und Stelle davon überzeugen, ob der gewaltige Rheinstrom wirklich den Eindruck macht, als beklage er seinen Sturz in die Tiefe, wie Poggio2 im 15. Jahrhundert schrieb. Doch rief mich der Bankhalter in die Wirklichkeit zurück.
«Kaufen Sie?»
Ich begriff nur eines: bis jetzt hatte ich nichts begriffen. Ein Bankhalter ist aber geduldig: er steht im Dienste des Volkes. Er griff nach einem Blatt, das auf der linken Seite des Tisches lag und legte es ruhig nach rechts hinüber. Dann faltete er die Hände, legte sie vor sich auf die Tischplatte und erklärte:
«Passen Sie auf, Sie sind als erster auf dem Platz Schaffhausen angekommen. Wenn Sie wollen – und ich rate es Ihnen in Ihrem eigenen Interesse –, dann überweisen Sie mir 1200 Franken : das ist ein Pauschalbetrag. Die Summe wurde mit Rücksicht auf die Bedeutung der Stadt festgelegt. Für Zürich Paradeplatz würde eine andere Quote gelten: dort wären es 8000 Franken. Nun gut, Sie überweisen die 1200 Franken, und ich gebe Ihnen diese auf Schaffhausen Vordergasse ausgestellte Besitzurkunde. Sie können diese Besitzurkunde jetzt behalten. In diesem Fall muss Ihnen jeder Spieler, der nach Schaffhausen kommt, 80 Franken geben. Wenn Sie jedoch ausser in Schaffhausen auch in Chur Grundstücke erwerben, haben Sie die Möglichkeit, Häuser oder ein Hotel zu bauen. Je mehr Sie bauen, desto höher werden die Mieten, die die anderen Spieler Ihnen zahlen müssen. Es liegt auf der Hand, dass Fortuna nur dem Unternehmungslustigen hold ist, dem Furchtsamen aber den Rücken kehrt.» – «Die Schwachen sind gewöhnlich auch feige», fügte Professor Vilfredo Pareto seinerseits hinzu, «Sie begehen Diebstahl im Verborgenen, heimtückisch und geschickt – sie haben nicht das Herz, in aller Öffentlichkeit einen bewaffneten Überfall zu wagen.»
Vielleicht gehörte ich auch zu jener Sorte von Feiglingen?
In Schaffhausen erwartete mich eine Botschaft von Crunch, dem mächtigen Direktor der Zürcher Zentrale, dem Gegenspieler von Dash beim Sturm auf den Gipfel der Bankhierarchie des Landes. Und Dash war ja ausgeschaltet ... Da ich im Geschäftsleben von Crunch vor allem kulturelle Belange vertrete, bat mich der grosse Chef, bei der Eröffnung einer für Führungskräfte und hohe Bankfunktionäre einberufenen Tagung an seine Stelle zu treten. Der plötzliche Tod von Dash erlaubte ihm nicht, sich von der Walstatt zu entfernen. Die Früchte sind reif, so dachte ich. In der Botschaft hiess es weiter, der Humanist werde auf diese Weise Gelegenheit haben, eines der schönsten Schlösser des Landes zu bewundern, das einst ein Bollwerk gegen das Ausland gewesen war.
«Da gibt’s zu trinken», liess sich ein Kollege aus dem Clan von Krachnuss vernehmen und schaute dabei in den Spiegel, als wir in dem alten Hotel angekommen waren. «Schliesslich handelt es sich ja um ein Symposium.» Die Taxis warteten vor dem Palast der Gerechten. Ein Grüppchen Neugieriger hatte den Finanzminister erkannt und applaudierte. Um zehn Uhr kamen wir vor dem Schlosstor an. Unsere Lederschuhe knirschten vergnüglich auf dem Kies der Allee. Um zehn Uhr fünfzehn, wenn unendliche Vergangenheit und unendliche Zukunft zusammentreffen (das Thema des Symposiums hiess ja «Die Zukunft unserer Banken»), hält die flüchtige Gegenwart einen Augenblick an: Kaffee und Brötchen. Milch nach Belieben.
Gute, schweizerische Milch.
«Der wohlverdiente gute Ruf unseres Landes», begann der Finanzminister mit ernster, nachdenklicher Stimme, «hat infolge bedauerlicher vonälle in unseren Kreditinstituten einen schweren Schlag erhalten. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, dieses trojanische Pferd rechtzeitig zu entlarven, mit welchem der Gegner sogar bis ins Innere unseres Staatswesens vorstossen könnte.»
Dann entspannte sich der Minister. Er sprach über die Massnahmen, die von der Regierung gemeinsam mit den entsprechenden verantwortlichen Stellen zu ergreifen waren. Er sprach von der Philosophie des Regierens, von seiner, des Finanzministers Philosophie. Doch dürfe man ihn nicht missverstehen: und mit feinem Lächeln betonte er, dass ein Minister der Jakobiner nicht etwa dasselbe sei wie ein jakobinischer Minister.
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