Ja, denken tut wohl. Im Geiste des löblichen Volksheeres halten friedliche Touristen ihren Körper fit und sportlich, indem sie mit der ganzen Familie die steilen Bergpfade hinauf- und hinunterwandern. Friedliche Kühe der Schwyzer Rasse trotten über die Alpenhänge und raufen die duftenden Bergkräuter aus, um sie in Alpenmilch zu verwandeln, die wiederum in Form von Käse in die ganze Welt versandt wird. Und nur wenig unter der Erdrinde das Wunderwerk des Pioniercorps: Forts und Unterstände, Waffendepots, Befestigungen vom Fuss bis zum Gipfel der Alpen, Abschreckung somit auch für die kampflustigsten Staaten.
Sbrinz ging noch weiter: «Unser Vaterland ist, als einziges Land auf der Erde, wie ich glaube, auf dem Milizheer und nicht auf dem Berufsheer gegründet. Darum hat jeder Soldat sein Gewehr bei sich zu Hause. Nun stelle ich mir die Frage – und ich stelle sie auch Ihnen, wie ich sie schon meinen Vorgesetzten gestellt habe: ebenso wie in jedem Neubau ein atomsicherer Schutzraum gesetzlich vorgeschrieben ist, so sollte doch auch – meinetwegen neben dem Gästezimmer – ein Raum für die Kanone vorgesehen sein, meinen Sie nicht auch? Der Rest lässt sich denken ...»
Ja, denken ist leicht. Wir fuhren bis zum Pass hinauf, den wir schon als Kinder zu lieben gelernt hatten.
Die lange Autoschlange der Touristen rückte bedächtig vor und blieb hie und da stehen.
«Erinnern Sie sich an Paul Egli 4, den Radrennfahrer? Das waren goldene Zeiten. In der selben Zeit, die wir brauchen, um hundert Meter voranzukommen, machte er die ganze Abfahrt vom Gotthard. Es ist wahrhaftig ein Unfug, wenn irgendein Windbeutel aus Amerika behauptet, unser Land habe einzig und allein die Kuckucksuhr erfunden.»
In der Nationalakademie von Sbrinz gab es nicht nur die Leuchte Paul Egli. Hinter jeder Kurve, bei jedem Gangwechsel erschien eine neue Geistesgrösse. «Urs Graf, grosser Geist des Eklektizismus, Universalgenie!»
Kühn überholte er einen Lastwagen aus Baselland, der mit vielen Lampen bestückt war, und er rief aus:
«Oekolampadius!»
Er nahm eine Kurve, der Motor heulte auf:
«Euler! Paracelsus! »
«Grosse Philosophen haben wir leider keine hervorgebracht.» Sbrinz lächelte geduldig und machte die für Ostschweizer typische Handbewegung, mit der sie einen Einwand wie eine lästige Fliege abwehren.
«Ach!»
Auf seine Weise hatte er aber sehr gut verstanden, und hatte nicht auch jemand darüber geschrieben, dass es in unserem Land keine grossen Philosophen gibt und nie welche gab? Der Gedanke hat sich bei uns von Anfang an in die Bewältigung der Wirklichkeit, in Gesetzgebung, verwandelt. Die Philosophie realisierte sich im Gesetzeskodex. Jeder Schweizer wacht in Tat und Wahrheit über die Schweiz, die in jedem ihrer Bewohner wertbestimmend vorhanden ist. Jeder Mitbürger ist also von Natur aus ihr Wächter. Das ist unsere beste Waffe: der wachsame Blick. Schliesslich sind wir alle so weit, diese Wachsamkeit zu verinnerlichen, indem wir uns selber bewachen. Wachsamkeit über sich selbst und gegen sich selbst.
Diese persönliche Aufsicht ist wie das Wasser der Bäche, das sich heiter im grossen Becken vereinigt, dann auf die Turbinen der Wasserkraftwerke hinabstürzt und sich in Energie verwandelt; Hochspannungsleitungen schwingen sich, von kühnen Masten getragen, über Abgründe und transportieren die Elektrizität in alle Landesteile und bis ins Ausland. Unsere weisse Kohle! So ausserordentlich rentabel! Und kostet fast nichts.
«Sie müssen mir etwas versprechen. Sie müssen mit mir kommen und das nationale Reduit besichtigen. Das ist eine ganze, verborgene Stadt, hier unter uns, mit Küchen wie in den grossen Hotels, mit einem Bahnhof und Elektrizitätswerken, und in den Sälen ist Parkett verlegt worden.»
«Wir befinden uns auf dem Gipfel des kostbarsten Berges der Welt. Unter uns liegt ein Konzentrat unserer Heimat, die Quintessenz unseres Landes, unangreifbar.»
Ein Tourist hätte nichts bemerkt. Wer die Wege verlässt und sich in abgelegene Gebiete wagt, stösst hie und da auf ein Schild mit der Aufschrift: «Militärgebiet. Zutritt verboten.»
Für dieses Militärgebiet hatte man die schönsten Gegenden des Landes erworben und mit Stacheldraht umzäunt – dort, wo keine Lawinen- oder Überschwemmungsgefahr zu fürchten war. Genauso waren in vergangenen Jahrhunderten die Ordensgemeinschaften vorgegangen, wenn sie ihre Klöster bauen wollten.
«Jetzt geht es abwärts, und wir kommen in Ihre Gegend. Macht es Ihnen Freude, die Luft des Südens zu spüren?»
Er schaltete das Radio ein und suchte für mich den Sender Monteceneri. Man spielte Bach, und ich fragte mich, was wohl geschehen sein mochte, eine Naturkatastrophe, oder ob ein bedeutender Staatsmann gestorben sei. In den Nachrichten war aber nur die Rede von unerwarteten Schneefällen, die die Spuren des im schottischen Bergland verunglückten Flugzeuges ausgelöscht hatten.
Der Sprecher fuhr fort: «In Reno» – er sprach es geziert aus wie Riino – «sind nach einem Familienstreit sechs Tote und zahlreiche Verletzte zu beklagen; zu den Opfern des Wahnsinnigen gehören seine Verlobte und ein zwölfjähriges Mädchen, das mit der ganzen Sache nichts zu tun hatte.»
«Achhh! », rief Sbrinz aus und wurde plötzlich finster. «Die mit der ganzen Sache nichts zu tun hatte! Wenn man bedenkt, dass alle so leben könnten wie wir!»
Er machte das Radio ärgerlich aus und sprach während der ganzen Abfahrt kein Wort mehr.
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