Die Wahl des neuen, dreimastigen Segelschiffes sollte sich als Glücksfall erweisen, strenge Regeln an Bord sorgten für Ordnung und Hygiene und machten den Schiffsalltag auch für die gut achtzig Passagiere des Zwischendecks erträglich. Mehr als fünfzig von ihnen waren Schweizer, denn auch Rufli hatte für seine Gruppe Passage auf der «Narragansett» gebucht. Am 20. September meldete das Journal du Havre, die «Narragansett» habe den Zoll passiert und stehe kurz vor dem Auslaufen. Am folgenden Tag ist das Schiff auf der Liste der «sorties» aufgeführt. 91
Auf offener See wurden Aebli und Lienhard wie die meisten Mitreisenden zuerst seekrank. Danach verlief die Reise ohne Zwischenfälle – mit einer Ausnahme, und diese hätte für Heinrich Lienhard ein böses Ende nehmen können. Aebli und er wollten sich eines Tages mittels einer Pumpe, die ausserhalb des Schiffbugs befestigt war, mit Meerwasser waschen. Lienhard stieg als Erster hinunter, stellte sich unter die Pumpenröhre und hielt sich mit der linken Hand an einem Tau fest; dann rief er Aebli zu, langsam mit Pumpen zu beginnen. Da stürzte das Wasser mit solcher Wucht auf ihn nieder, dass er vor Schreck seinen Halt fahren liess und nur noch reflexartig mit der andern Hand das Tau wieder packen konnte. Es stellte sich heraus, dass oben ein irischer Matrose Aebli von der Pumpe weggedrängt hatte, um diese sogleich mit aller Kraft selbst zu betätigen. Der Schock blieb Lienhard zeitlebens in Erinnerung: «Die See war allerdings ganz ruhig und fast spiegelglat, aber da ich nicht Schwimmen konnte, weiss ich doch nicht, wie es mir ergangen, wäre ich hinab gestürzt.» 92
Als sie sich nach der Atlantiküberquerung der Karibik näherten, griff der Kapitän immer öfter zum Fernrohr, und eines Tages ertönte endlich der Ruf: «Land in Sicht!» Langsam tauchte am Horizont die östliche Spitze der Insel Hispaniola auf, doch zu Lienhards Bedauern passierten sie diese in grosser Entfernung. Heinrich Lienhard war von der ersten Seereise an ein begeisterter Schiffspassagier. Bei all seinen Schiffsreisen zählte er am Morgen stets zu den Ersten, die an der Reling standen, und abends zu den Letzten, die ihre Schlafstelle aufsuchten. Und wenn der Mond hell genug schien, verbrachte er, in eine Wolldecke gehüllt, oft die ganze Nacht auf Deck, um nichts zu verpassen. Er liebte es, im Vorbeiziehen die Küsten und Inseln zu betrachten, und immer wieder beobachtete er fasziniert die vielen Tiere in Luft und Wasser, die in der Nähe von Land das Schiff lange begleiteten.
Im Golf von Mexiko erwartete sie stürmisches Wetter. Während mehrerer Tage lavierte die «Narragansett» in den Wellen, und der Kapitän bemühte sich, nicht zu weit nach Westen zu geraten, wo nach seinen Worten Gefahr bestand, auf eine Sandbank aufzulaufen. Als sich die See endlich beruhigte und das Wasser seine dunkle Farbe verlor, dauerte es nicht lange, bis sich ihnen ein kleines Lotsendampfboot näherte. Die Besatzung der «Narragansett» zog die Segel ein, befestigte ein dickes Tau an der «Black Star», und diese schleppte nun das grosse, dreimastige Segelschiff zur Mündung des Mississippi River. Dort kam ein Arzt an Bord, der die Gesundheitskontrolle vornahm. Auf der «Narragansett» musste er weder Kranke noch Tote registrieren, sondern konnte sogar einen zusätzlichen Passagier verzeichnen: Während der Umrundung der Ostspitze Kubas (Kap Antonio) war nämlich ein kleiner Antonio zur Welt gekommen, Sohn eines jungen Paares aus dem süddeutschen Baden. Somit hatte die Seereise nach 47 Tagen ein glückliches Ende gefunden, und nach einer weiteren Schleppfahrt mit der «Black Star» erreichten sie zwei Tage später den Hafen von New Orleans. 93
Während fast alle Franzosen in New Orleans zurückblieben, hielten sich die Schweizer und Deutschen nur kurz in der Stadt auf, um sich dann an Bord des Dampfers «Meridian» zu begeben. Zehn Tage dauerte die Fahrt flussaufwärts bis nach St. Louis, Missouri. Um von hier nach Neu-Schweizerland zu gelangen, setzte man mit einer Fähre auf die Illinois-Seite des Mississippi über, danach blieben noch knapp dreissig Meilen 94zu Fuss oder mit einem privaten Fuhrwerk landeinwärts zu bewältigen. Reisende nach Highland warteten in St. Louis mit Vorteil im «Switzerland Boarding House», wo Farmer von Highland jeweils vorbeischauten, wenn sie ihre Produkte nach St. Louis brachten. Es dauerte denn auch nicht lange, bis zwei Schweizer aus der Siedlung erschienen und sich bereit erklärten, die neu eingetroffenen Landsleute und ihre schweren Koffer mitzunehmen.
Da sie die Strecke nach Highland in zwei Etappen zurücklegen wollten, machten sie gegen Abend Halt in einem Wäldchen. Sie bereiteten sich auf eine ungemütliche Nacht vor, denn im Wagen gab es keinen Platz zum Schlafen, der Erdboden war feucht, und es fing auch noch zu regnen an. Sie holten ihre Regenschirme hervor und versuchten, sich an einem Feuer zu wärmen, wobei einer der Farmer namens Buchmann einen Krug mit Whisky zirkulieren liess. Dann begann er von den Männern, Frauen und Kindern zu erzählen, die auf ihrer langen Reise über den amerikanischen Kontinent während Monaten noch viel härtere Strapazen auf sich nahmen, um im Fernen Westen eine neue Heimat zu suchen: «Er erzählte mir, wie die Emigranten über die Ebenen und Felsengebirge nach Oregon und Californien fünf bis sechs Monate lang mit Ochsen- und Mauleselfuhrwerken auskampieren müssten, wie sie sich mit Lebensmittel, Zelten, Gewehren und Waffen versahen, wie sie verschiedenen Indianern begegneten, von den Buffalos, Antilopen, Hirschen u.s.f. Er sagte, dass schon seid zwei bis drei Jahren im Frühjahr sich Leute in wo möglich grössern Gesellschaften zusammen fänden, und noch mehr verschiedene Einzelnheiten über jene geheimnissvollen Regionen.» 95
Farmer Buchmann hätte sich keinen aufmerksameren Zuhörer wünschen können als Heinrich Lienhard. Das Wort»California» muss diesen wie ein Blitz getroffen haben, denn es liess ihn in den folgenden Jahren nicht mehr los. «Ich war also noch nicht an dem Endziele meiner Reise angekommen», erinnert er sich, «und doch empfand ich bereits Lust, vielleicht bald eben dieselbe Reise zu wagen.» 96
Erste Jahre in Amerika: Illinois 1843–1846
Heinrich Lienhard und Jakob Aebli erreichten Neu-Schweizerland um den 20. November 1843 und wurden von Aeblis Verwandten, Familie Schneider, freundlich aufgenommen. Lienhard verbrachte zwei Wochen bei ihnen und benutzte die Zeit, um sich eine Arbeit zu suchen. Seine erste Stelle fand er bei einem Solothurner namens Mollet, der ihm als Lohn für den Anfang zwar nur Kost und Logis anbot, ihm später aber, wenn er sehe, dass Lienhard es verdiene, auch einen Lohn bezahlen wollte. 97Mollet arbeitete neben seinem Beruf als Wagenmacher auch als Zimmermann, und Lienhard freute sich auf die neue Herausforderung, zumal Mollets Frau Amerikanerin war und er deshalb hoffte, rasch mit der englischen Sprache vertraut zu werden.
Die kommenden Wochen erwiesen sich als schwieriger Anfang in der neuen Heimat. Der strenge Arbeitstag begann früh am Morgen, lange vor dem Frühstück, und hätte nach des Meisters Vorstellung bis abends um neun Uhr gedauert. Das Essen war eintönig und ungesund; es bestand aus «stark ausgebratenem und dabei sehr gesalzenem Speck, Kornbrod, ohne Salz und Fett bereitet, und dabei schlechten Weizencaffee mit allerhöchstens zehn Tropfen Milch auf die Tasse, so dass man kaum eine Verenderung der schwarzen Kaffeefarbe zu sehen vermochte.» 98Als Ersatz für Fett und Salz wurde das Maisbrot mit dem «ausgeschmolzenen Fett des verbratenen Specks» begossen. 99Diese Mahlzeit kam dreimal täglich an sieben Tagen pro Woche auf den Tisch, «so Regelmässig, als ob ein strenges Gesetz irgend etwas Anderes verböte». 100
Lienhard bekam Magenschmerzen, fühlte sich schlecht behandelt, war unglücklich und enttäuscht. Nach zwei Monaten bei Mollet fand er, dass er nun zwar die «Schattenseite» von Neu-Schweizerland kenne, aber noch nichts von der «Sonnenseite» bemerkt habe. 101Als er den Meister eines Tages bei einer groben Tierquälerei beobachtete und vergeblich versuchte, ihn davon abzuhalten, verliess er dessen Haus für immer.
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