Zwei Wochen vor der Abreise begaben sie sich nach Glarus auf die Kanzlei, um ihre Pässe abzuholen. Lienhards «Reise-Pass» datiert vom 10. August 1843, und das «Signalement des Tragers» lautet wie folgt: «Alter: 21 Jahre; Grösse: 5 Fuss 8 Zoll; Haare: dunkelbraun; Augenbrauen: item; Stirne: gewöhnlich; Augen: hellbraun; Nase, Mund: mittler; Kinn: rund; Gesicht: oval; Besondere Kennzeichen: keine.» 76Nachdem sie das lang ersehnte Reisedokument sicher in ihrer Tasche wussten, mischte sich auf dem Nachhauseweg sogar ein wenig Wehmut in ihre Vorfreude: «Auf dem Rückweg von Glarus über Mollis nach Hause besahen wir noch unsere romantischen Glarnerberge. Da erhoben sie sich so Majestätisch, und doch sahen sie so friedlich aus an diesem freundlichen, sonnigen Augusttag. ‹Werden wir diese herrlichen Berge wieder sehen?›, fragten wir uns, ‹es ist halt doch schön hier!›» 77
Am 24. August fiel der Abschied vom Vater so versöhnlich aus, wie Heinrich es sich immer gewünscht hatte: «Während meine Brüder Peter und Kaspar meine Reisekuffer hinten auf das Chaisechen 78für mich befestigten, waren mein Vater und ich noch allein im Hause. Wir tranken etwas Wein zusammen und vergaben uns jeden Fehler, welchen wir gegen einander begangen haben mochten. Plötzlich sagte der Vater zu mir: ‹Heinrich, bleibe hier! Ich will Dir gern alle Auslagen ersetzen, wenn Du hier bleibst.› Daran erkannte ich deutlich genug, dass der Vater mich doch noch lieb hatte, woran ich früher so oft zweifelte. Freilich konnte ich seinem Wunsche nicht entsprechen, denn ich sagte ihm, dass, wenn ich auch wirklich wollte, so dürfte ich mich so etwas nicht unterstehen, indem man mich für immer verhönen würde. Jetzt war Unten alles fertig, der Vater wollte mich noch bis Lachen begleiten. Aber aus dem Väterlichen Hause, in welchem ich das Licht der Welt zum Erstenmahl erblickte, in welchem ich meine Kindheit durchlebt und gross geworden durch die gütige Pflege und Vorsorge meiner Eltern, besonders meiner nun modernden, unvergesslichen Mutter, deren Augen ich zudrückte – es that mir doch Wehe, ich mochte mich dagegen wehren, wie ich wollte.» 79
In Lachen stiegen die beiden jungen Männer mit ihren Angehörigen zu einem letzten gemeinsamen Mittagessen im Gasthof Zum Bären ab. Später begaben sie sich zum Landungssteg, wo das Botenschiff nach Zürich wartete, und nahmen Abschied. «Der Vater blieb noch längere Zeit an der Landung stehen», erinnert sich Lienhard, «wahrscheinlich glaubte er, mich zum Letztenmahl gesehen zu haben. Ich schwenkte ihm noch manchmahl mein Nastuch, bis auch er endlich den Platz verliess.» 80
Nach einer unruhigen Nacht auf Heu und Stroh war Lienhard frühmorgens der Erste, der das unbequeme Lager verliess. Selbst die vielen Flohbisse der vergangenen Nacht vermochten seine frohe Aufbruchstimmung nun nicht mehr zu trüben. In Zürich angekommen, besorgte er sich er sich ein deutsch-englisches Wörterbuch, während sich Aebli auf die Suche nach einem Transportmittel für ihre Weiterfahrt Richtung Basel machte, mit gutem Erfolg: Beim Landeplatz der Frachtkähne erklärte sich einer der Bootsleute bereit, ihn und seinen Reisegefährten – als einzige Passagiere – für wenig Geld bis nach Laufenburg mitzunehmen. Ihr Gepäck sowie «einige schwere Stücker Roheisen und eine Anzahl fetter Kälber für die Bäder in Baden» 81wurden eingeladen, dann ging es auf dem langen, spitzen Kahn in schneller Fahrt via Limmat, Aare und Rhein flussabwärts. Am Abend machte man bei einem Gasthof Halt für die Nacht: «In dem Wirtshaus fanden wir noch ganz unerwartet einen unserer nächsten Nachbarn, Friedolin Streif, welcher mit Schabzieger handelte und am nächsten Tag nach Zurzach wollte, welches unweit von Da zwischen der Aare und dem Rhein liegen soll. Durch Streif sandten wir unsern Verwandten noch einmahl Grüsse heim.» 82Am Nachmittag des 26. August erreichten sie Laufenburg, von wo sie mit einem Fuhrwerk nach Sisseln gelangten.
Hier wartete bereits ein junger Mann von Ruflis Reisegruppe: «Wir fanden bei unserer Ankunft nur ein einziger Passagir von St. Gallen namens Jakob Behler, welcher wie wir Highland 83als das Endziel seiner Reise nach Amerika betrachtete. Behler hatte die selbe Broschüre von Salomon Köpfli über Neu Helvetia 84gelesen wie wir, und seine zwei Brüder und er wurden dadurch ebenso sehr wie Aebli und ich für das neue gelobte Land begeistert, als welches wir Highland dieser Beschreibung gemäss halten mussten. Wir betrachteten uns, als wären wir schon alte Bekannten, und hatten, soviel ich mich erinnere, keine Ursache, späther diese Bekanntschaft bereuen zu müssen.» 85
In den folgenden Tagen trafen nach und nach weitere Reisende ein, vor allem Leute aus den Aargauer Gemeinden Küttigen, Erlinsbach und Frick, darunter viele Familien mit Kindern. Als Transportmittel für die Reise nach Le Havre dienten zwei grosse, breite gedeckte Wagen, in denen Bänke angebracht waren und die von je vier bis fünf starken Pferden gezogen wurden. Lienhard und Aebli waren der Ansicht, dass die beiden Wagen überladen seien, besonders nachdem sich ihnen vor Basel noch eine Gruppe von etwa zehn Berner Emigranten angeschlossen hatte.
Am 31. August passierten sie die Grenze bei St. Louis, danach ging die Reise langsam, aber stetig in nordwestlicher Richtung quer durch Frankreich: «Nancy ist eine schöne Stadt in einer herrlichen, mit Wein bebauten Gegend noch im Lotringischen. Wir hielten uns aber nur so lange auf, als nöthig war, das Mittagessen einzunehmen. Chalons ist eine grosse und schöne Stadt, Paris liessen wir zu unserer Linken ligen. Rouen erreichten wir Nachmittags zirca um Vieruhr; es nahm uns zwei volle Stunden, bis wier diese Stadt passiert hatten. Nachher bezogen wir wieder in einem grossen Pferdestall unser Nachtquartier 86. Rouen ligt an der Seine, es kommen schon kleinere Seeschiffe bis dahin. Die Landung sieht einem Seehaven ähnlich, und man riecht schon den Teer, sieht grosse Taue, Anker, Matrosen – überhaupt war da viel Leben und geschäftiges Treiben.» 87Lienhard gehörte zu den jungen Leuten, die bei dem fast ausnahmslos schönen Sommerwetter einen guten Teil der Strecke zu Fuss zurücklegten, und wenigstens darin sah er einen Vorteil gegenüber der Beförderung mit der Postkutsche: «Auf diese Art, wie wir reisten, hatten wir natürlich gute Gelegenheit, Frankreich, soweit wir kamen, besser zu besehen, und ich war entzükt über die grössten Theils schönen, gutbebauten, fruchtbaren Gegenden.» 88
Nach zweiwöchiger Reise näherten sie sich ihrem ersten grossen Etappenziel: «Sonntag, den 14. Sept. kamen wir plötzlich auf einer Anhöhe an, von wo aus wir zum Erstenmahl das Meer erblickten. Es war eine prächtige Aussicht, die See glänzte wie ein Silberspiegel und erweckte in uns Gefühle eigener Art.» 89Wenig später erreichten sie die Stadt Le Havre. Als sie dort beim letzten Essen mit Rufli in einem Gasthaus sassen, trat ein Mann auf sie zu und erkundigte sich, ob es unter ihnen Glarner gebe. Er stellte sich selbst als Glarner namens Legler vor und anerbot sich, Leuten aus seinem Heimatkanton bis zur Abfahrt des Schiffes zu helfen, da er sich in Le Havre gut auskenne und einige Tage Zeit habe. Aebli und Lienhard nahmen das Angebot dankbar an und trennten sich von der Rufli-Gruppe.
Legler brachte sie zuerst in einem besseren Gasthof unter und begleitete sie in den folgenden Tagen bei ihren Besorgungen. Als Erstes kauften sie sich ihre Schiffspassage auf dem amerikanischen Segelschiff «Narragansett» 90. Dann besorgten sie sich das noch fehlende Geschirr und Bettzeug sowie zusätzliche Essensvorräte für die mehrwöchige Seereise. Am 18. September mussten sich die Schiffspassagiere an Bord einfinden, und in Lienhards Pass vermerkte der Commissaire de Police Délégué neben dem Polizeistempel: «Vue pour La Nouvelle Orléans sur Le Navire Le Narraganset. Havre Le 18 Sep. 1843.»
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