An einem Abend im Dezember 1841 erschien ein Knecht von Barbaras Schwiegervater auf dem Ussbühl und berichtete, Barbara sei recht krank und wünsche sich, dass die Mutter nach Schänis käme. 48Vergeblich versuchten der Vater und die Söhne, die Mutter davon abzuhalten; schon am folgenden Tag begab sie sich zu Barbara, wo sie mehrere Wochen blieb und ihre Tochter gesund pflegte. Nach ihrer Rückkehr auf den Ussbühl geschah, was alle befürchtet hatten: Die Mutter erkrankte ebenfalls am sogenannten Nervenfieber 49. Heinrich pflegte sie hingebungsvoll und war untröstlich, mit ansehen zu müssen, wie sie Schmerzen litt und mit jedem Tag schwächer wurde. Auf die drängenden Fragen des Vaters und der Kinder eröffnete ihnen der Arzt schliesslich, dass keine Hoffnung mehr bestehe. Gegen Ende delirierte die Mutter oft, und die Phasen, in denen sie ansprechbar war, wurden immer seltener. Die Schilderung dieser letzten Wochen am Bett der schwer kranken Mutter ist ein sehr persönlicher Abschnitt des Manuskripts; sie bringt die Liebe und grosse Dankbarkeit zum Ausdruck, die Lienhard für die Mutter empfand und sein Leben lang bewahrte.
Am 30. Januar 1842, einem Sonntag, blieb Heinrich, als die Besucher sich für kurze Zeit aus dem Krankenzimmer entfernten, allein bei der Mutter zurück und fragte sie: «‹Liebe Mutter, kennt Ihr mich noch?› Sie öffnete ihre Augen, blickte mich freundlich an und antwortete: ‹Ja, Du bist ja mein lieber Heinrich!› Ich konnte kaum Worte hervorbringen, doch wollte ich sie noch Einiges fragen; aber es waren ihre letzten lieben Worte gewesen, und sie war wieder in Schlummer verfallen, und ihr Puls gieng besonders schnell und laut.» 50Nachdem sich die Familie wieder um das Bett versammelt hatte, starb die Mutter in Heinrichs Armen. «Ich konnte meiner Gefühle kaum Herr werden», beschreibt er diesen Moment, «denn mir war es, als ob sich auch für mich auf dieser Welt alles aufgelöst habe und ich nun nicht mehr existiren könne, und ich glaube, hätte ich auf mein Wort ihr in die Ewigkeit folgen können, ich würde es gethan haben. Nachdem meine erste Aufregung etwas nachgelassen und ich meine Fassung einigermassen wieder erlangt hatte, da war mein Beschluss gefasst: ‹Ich reise nach Amerika›, sagte ich mir, ja ich sagte es offen!» 51
Obwohl seine Entscheidung nun feststand, brachte er es nicht übers Herz, den trauernden Vater gegen dessen Willen zu verlassen. Kaspar Lienhard beschloss nach dem Tod seiner Frau, mit dem mütterlichen Erbe sein gesamtes Land den Kindern zu überlassen. Sie teilten es in vier möglichst gleich grosse Teile auf und verlosten diese untereinander. Am begehrtesten war das sogenannte «Heimatgut» mit dem Elternhaus, das lebenslanges Wohnrecht für den Vater und für die unverheirateten Söhne einschloss. Das Los entschied für Peter, und für Heinrich war klar, dass er von seinem Wohnrecht keinen Gebrauch machen würde. Er wollte deshalb die Zeit, bis der Vater seinen Reiseplänen zustimmen würde, für eine Berufslehre nutzen, setzte vorher aber noch ein deutliches Zeichen, indem er im Sommer das ihm zugefallene Land an einer Auktion verkaufte. Dabei spielte ihm der ältere Bruder einen letzten Streich: Obwohl der Vater Peter davor gewarnt hatte, bot dieser mit, 52worauf sich der am Kauf interessierte Nachbar zurückzog. Später liess dieser Heinrich wissen, dass er ihm zweihundert Gulden mehr bezahlt hätte als der Bruder.
Noch im selben Jahr trat Heinrich kurz nacheinander zwei Lehrstellen an, denn er wollte unbedingt einen Beruf erlernen. «Dieses lässt sich leicht sagen», resümiert er seine Erfahrungen, «aber wer in Europa Lehrling sein muss, hat gewiss ein schöner Vorgeschmack von Sklaverei erhalten; mir kam es wenigstens so vor.» 53Zuerst versuchte er es in der grössten Schreinerei von Wädenswil, wo schöne Möbel angefertigt wurden und ein halbes Dutzend Gesellen sowie drei Lehrlinge beschäftigt waren. Er vereinbarte mit dem zukünftigen Meister eine dreiwöchige Probezeit; würde er die Lehre danach definitiv antreten, sollte er sich für drei Jahre verpflichten und vierzig Taler Lehrgeld bezahlen, 54anderenfalls der Familie drei Gulden Kostgeld für die Probezeit vergüten.
Die ungewohnte Arbeit in der Werkstatt war anstrengend, zudem lernte Heinrich schon bald auch alle anderen Pflichten des jüngsten Lehrlings kennen. Sie bestanden darin, «erstens dem Meister zu jedweder Arbeit zu Diensten zu sein, Zweitens das Wasser ins Haus [zu] tragen, Drittens der Frau Meister die Betten für alle Gesellen zu machen und die vielen schnellfüssigen Flöhe zu fangen helfen – ein Geschäft, wobei ich etwas Dumm und Langsamm war. Und endlich sollte ich, wenn der Meister nicht gerade dabei war, auch noch den jungen schwäbischen Lausbuben, welche sich als Gesellen über mich dünkten, allerlei Dienste verrichten und am Sontag auch noch sie Traktiren.» 55Dies alles entsprach nicht seinen Vorstellungen einer Lehrstelle, so dass er nach Ablauf der Probezeit dem Meister die drei Gulden Kostgeld bezahlte und erleichtert auf den Ussbühl zurückkehrte.
Den zweiten Versuch machte er bei Büchsenmacher Pfenninger in Stäfa. «Ich war immer ein Freund vom Schiessen und schöner Schiessgewehre», 56begründet er seine Wahl, und die dreiwöchige Probezeit verlief denn auch für beide Seiten zufriedenstellend. Das Wohnhaus mit Weinberg befand sich auf einer Anhöhe in schöner Lage, der Meister und seine Frau, die Tochter und die fünf Söhne, von denen der Älteste ebenfalls in der Werkstatt arbeitete, behandelten ihn freundlich, und auch die Kost liess nichts zu wünschen übrig. «Hätte ich da zögern sollen, einen Kontrakt zu schliessen? Ich sollte zwei und dreiviertel Jahre beim Meister bleiben und sollte eilf Dublonen Lehrgeld bezahlen; ich sollte dann aber zu keiner andern Arbeit verpflichtet sein als solche, die zum Erlernen des Büchsenmacher-Geschäft gehörenden. Die erste Hälfte des Lehrgeldes wurde sogleich bezahlt, die zweite Hälfte sollte nach Ablauf der halben Lehrzeit bezahlt werden.» 57
In der Werkstatt machte er rasch Fortschritte und war begierig, Neues zu lernen. Der Meister zog aber ein gemächlicheres Tempo vor und fand die wiederholte Bitte seines Lehrlings, er möge ihm mehr zeigen, verfrüht. Heinrich vermutete allerdings, Pfenninger habe wohl eher befürchtet, es könnte ihn dadurch «zu sehr nach baldiger Freiheit gelüsten.» 58So verrichtete er weiterhin die härtesten Arbeiten wie «Züge in neue Büchsenläufe zu ziehen, alte Züge zu erneuen und tiefer zu ziehen, Flintenläufe auszuschneiden und dergleichen, welches bedeutende Anstrengung erforderte, bei welchen Arbeiten ich förmlich dämmpfte.» 59
Mit der Zeit stellte Heinrich fest, dass die kleinen Gefälligkeiten, um die er ab und zu ausserhalb der Werkstatt gebeten wurde, sich häuften. Er verstand zwar, dass es für ihn leichter sei als für die Frauen, Wasser aus dem Brunnen ins Haus zu tragen, störte sich aber trotzdem an dem Gedanken, sich für elf Dublonen Lehrgeld zweidreiviertel Jahre «als Wasserträger für die Familie» 60betätigen zu müssen. «Aber ich suchte mich zu trösten und sagte mir, dass ich mir als Lehrjunge eine Kleinigkeit gefallen lassen müsse.» 61Er hackte Holz, half auf dem Feld und im Rebberg, und erst als ihn der Meister einmal aufforderte, Jauche umzuschöpfen, weigerte er sich, dessen Anweisung zu befolgen. «Ich war bereits an meiner Arbeit in der Werkstätte, da kam der Meister. Als er die mir befohlene Arbeit unverrichtet fand, sah er bald nach mir durch das Fenster, bald nach den Jauchen-Behältern und that sehr erzürnt. Um dass das Schlimmste sogleich kommen möge, stellte ich mich an das Fenster hin und sah ihm ruhig durch dasselbe zu. Ich erwartete, ungefähr so Freundlich angesprochen zu werden, als er mich durch seine Brille anschaute; ich hielt sein Blick aber ruhig stehend aus und erwartete ihn im nächsten Moment in der Werckstätte. Aber der Meister gieng ins Haus und hatte kein Wörtchen derwegen zu mir zu sagen.» 62
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