Er schüttelte den Kopf. «Nein, einfach so. Wir kennen uns wenig genug, dass wir uns nicht voreinander zu schämen brauchen. Ich dachte, es hilft Ihnen vielleicht, zu wissen, dass andere auch Unglück zu tragen haben.»
«Nein, das tut es nicht. Ich muss ja mein Unglück allein tragen.»
Als sie gegangen war, setzte sich Michael Kellenberger in sein Büro und legte die Füße auf den Schreibtisch. Er hatte kein Licht eingeschaltet. Ein Bündel Briefe flatterte auf den Boden. Er ließ sie liegen. Die Dämmerung legte sich langsam über den Fluss; die Silhouetten der Häuser auf der anderen Seite stachen spitz wie Scherenschnitte in den Himmel. Er begriff hinterher nicht, was ihn veranlasst hatte, dieser Frau, die er nicht kannte, seinen persönlichen Kummer anzuvertrauen. Aber sie imponierte ihm mit ihrer Gradlinigkeit. Und wenn er die Augen schloss, erschien ihm ihre gepflegte Figur, durchaus noch attraktiv, ihr rotbraunes Haar, das die Ohren zur Hälfte verdeckte, und ihr Blick – nicht leicht anzüglich wie der Tanjas –, sondern ehrlich und rührend zutraulich.
Aber da war noch Helen. Sie hatte sein drittes Kind in ihrem Leib getragen. Vor sechs Jahren. Während genau vier Monaten. Sie hatten gelacht wie die Kinder; er hatte ihr Hemd hochgestreift und ihren Bauch gestreichelt. Natürlich war noch nichts zu sehen. Sie hatten gespritzten Weißwein getrunken im Bett. Er hatte sie weiter gestreichelt, dann sie ihn, und am Ende hatten sie sich geliebt, fröhlich und unbeschwert, bei offenem Fenster, umschmeichelt von den Sonnenstrahlen eines warmen Sommerabends.
Bis sein Ausrutscher mit der Freundin einer Bekannten der Idylle ein Ende bereitete. Im Grunde war es nicht der Ausrutscher, der ihre Ehe unheilbar vergiftete, sondern sein spontanes Geständnis hinterher, als die Affäre nach nur zwei Wochen bereits verpufft war. Dabei hatte er sich eine Überlegungsfrist von einem Tag eingeräumt und sich beinahe aufgerieben ob der Frage, was richtig sei: Geständnis oder Stillschweigen.
Helen hatte hysterisch reagiert auf sein Bekenntnis einer männlichen Schwäche. Ihr Menschenbild ließ eine unbedachte, bedeutungslose Verirrung nicht zu. Ihre herausgeschrienen Vorwürfe klangen Michael in den Ohren wie am ersten Tag; ihre Flüche und Verwünschungen, dann ihre Tränen. Und zuletzt der Abort ihres Kindes als Folge ihrer psychischen Erschöpfung.
Michael verdrängte die Erinnerung. Er hatte Helen geliebt. Wahrscheinlich liebte er sie immer noch, aber das wollte er sich nicht eingestehen. Manchmal vermisste er sie, vor allem wenn er mit sich allein war. Aber Helen verweigerte jeden Kontakt; übrig geblieben waren nur seine monatlichen Zahlungen. Und das Gerücht, sie sei lesbisch geworden, zugetragen von einem wohlmeinenden Freund.
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