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Der Mittwoch brachte Herbert Matter neues Ungemach. Er verbrachte den Vormittag mit der Erledigung von Routineaufgaben, der Veranlagung einiger kleiner Handwerker und dem Studium zweier Einsprachen gegen frühere Veranlagungen. Hoffnungslose Zeitverschwendung, die Einsprecher hatten nicht die geringste Chance, mit ihren Einwendungen durchzudringen. Den Nachmittag widmete er dem Kunststück, für die Akten darzulegen, dass die Steuererklärungen der Herren Kellenberger und Huber nach erneuter Überprüfung korrekt waren. In zwei Notizen zeigte er auf, dass sich dem Rechtsanwalt nichts Unkorrektes nachweisen lasse, insbesondere keine nicht deklarierte Zahlung aus Vaduz, und dass sich das ominöse Schreiben der Ehefrau Huber vom 7. März auch in den Akten der anderen Abteilungen nicht auffinden lasse. Entweder existierte es nicht, oder es war unauffindbar verloren gegangen oder es lag in der Akte eines gänzlich anderen Huber, mit dem Matter nichts zu tun hatte.
Wesentlich mehr Mühe bereitete ihm sein Opfer Regenass. Nachdem der Abteilungsleiter, Konrad Nägeli, die Akten eingesehen hatte, ließ sich nichts mehr wegargumentieren. Paul Regenass musste eine Nach- und Strafsteuerrechnung hingepfeffert werden. Als einzige Milderung kam in Frage, ihm geringeres Verschulden zuzubilligen. Damit ließ sich die Nach- und Strafsteuer auf unter 500 000 Franken reduzieren. Aber wie Regenass darauf reagieren würde, war nicht abzusehen. Der Internetfachmann würde mit Sicherheit toben und hochgehen wie ein Vulkan, vielleicht eine Strafanzeige wegen Erpressung einreichen. Dagegen nahm sich das Gegenargument der Beamtenbestechung reichlich mager aus. Und wenn Konrad Nägeli gar auf die Idee kommen sollte, die Doktoren Kellenberger und Huber zu ihren Steuererklärungen zu befragen, würde Matters sauberes Konstrukt platzen wie eine Seifenblase.
Langsam dämmerte dem Beamten, dass er sich ein unlösbares Problem aufgehalst hatte. Selbst eine Rückzahlung des Darlehens würde keine Sicherheit gewähren; Regenass konnte es sich dann erst recht leisten, ihn zu denunzieren. Der einzige Ausweg bestand darin, in London mit Regenass zu reden, ihm Argumente für eine Beschwerde gegen die zu erwartende Steuerrechnung zu liefern und ihm klarzumachen, dass auch ihm strafrechtliche Konsequenzen drohten, falls ihr Darlehensgeschäft bekannt würde.
Damit ließ sich bestenfalls ein wenig Zeit gewinnen; Zeit allerdings, die Herbert Matter ausreichte, um sich auf Nimmerwiedersehen nach Neuseeland abzusetzen. Mit diesem kleinen Trost versehen, begann er wie die übrigen Beamten kurz vor fünf Uhr sein Pult aufzuräumen.
Am Donnerstag stand der Gang zum Amtsvorsteher auf dem Programm, dem er das Urlaubsgesuch wegen des Brustkrebses seiner Schwester in Miami unterbreiten würde. Dass es bewilligt würde, stand außer Zweifel. Am Freitag stand sein Arbeitsplatz bereits den Putzfrauen zur Verfügung, von unterwegs würde er seine Kündigung einreichen, und am Samstag fing das Leben mit Tanja an. Sein Blick fiel auf das gerahmte Bild seiner Frau Sylvia; er hatte vergessen, es zu entfernen. Entschlossen packte er die Fotografie und verstaute sie in der untersten Schublade seines Pultes. Jetzt war nichts Persönliches mehr in seinem Büro; man konnte ihm getrost für immer den Rücken kehren.
Am folgenden Abend informierte Kellenberger Sylvia Matter über weitere Einzelheiten. Sie trug diesmal ein kleines Schmuckstück um den Hals, ein Goldkettchen mit einem zitronengelben Edelstein. Ihr Gesicht war noch sorgfältiger hergerichtet als am Vortag. Sie hörte aufmerksam zu, als er ihr eröffnete, dass ihr Mann einige Steuersünder erpresst hatte, um sich selber zu bereichern. Also hätten seine Opfer ebenfalls ungesetzlich gehandelt, stellte sie schließlich nüchtern fest. Das sei so, bestätigte der Anwalt, und deshalb sollte sowohl über die Verfehlungen ihres Mannes als auch über diejenigen seiner Opfer Stillschweigen bewahrt werden. Über Tanja Goldsteins Stellung zu reden brachte er nicht fertig. Welche Untat denn nun schwerer zu gewichten sei, wollte Sylvia weiter wissen. Eindeutig die Erpressung, die Strafe dafür sei Zuchthaus, während Steuerhinterziehung lediglich mit einer Strafsteuer, also einer Art von Busse, geahndet werde. Ob das für sie denn so wichtig sei, schloss Kellenberger seine Ausführungen mit einer Frage.
«Nicht wirklich», erwiderte Sylvia Matter. Sie verstummte und fuhr erst nach längerem Schweigen fort. «Wissen Sie, als Frau fühlt man sich ganz klein und schäbig, wenn einem der Mann davonläuft. Man kommt sich unnütz vor, wie weggeworfen. Man fragt sich, was man falsch gemacht hat. Nicht, was er falsch gemacht hat. Ich habe Fehler begangen, sonst wäre er ja nicht ausgezogen. Dann kommt die Gegenreaktion. Er ist ein Schuft, ein elender. Zwanzig Jahre lang besorgt man ihm den Haushalt, erzieht den Sohn, weil der Papa keine Zeit hat, legt ihm die Hände unter die Füße. Man liebt ihn, selbst wenn er ungehalten ist und unfreundlich, selbst nachts, wenn er schnarcht wie ein Sägewerk. Und das soll es dann gewesen sein, das ganze Leben! Was danach kommt, interessiert niemanden. Und dann vernimmt man noch, dass er ein Verbrecher ist! Umbringen sollte man ihn, den Mistkerl, in die Hölle sollte er fahren!»
Sie schlug die Hände vors Gesicht. Ihr Mund öffnete sich, als wolle sie noch etwas sagen, aber sie schwieg. Kellenberger befürchtete, sie werde gleich in Tränen ausbrechen. Er fragte:
«Kam das alles aus heiterem Himmel? Gab es keine Abkühlung in Ihrer Beziehung? Haben Sie nichts geahnt von seiner Unzufriedenheit?»
Sylvia Matter schüttelte den Kopf. «Wahrscheinlich war ich zu gutgläubig. Oder zu ahnungslos. Ich habe mich der Routine des Alltags hingegeben, ohne zu merken, dass das nicht genügt. Wäre ich wachsam gewesen, hätte ich die Zeichen rechtzeitig erkannt.»
Der Anwalt antwortete nichts. Er wechselte das Thema.
«Ich habe Ihnen noch nicht alles berichtet, Frau Matter.»
«Oh – gibt es noch weitere Hiobsbotschaften?»
«Ihr Mann hat seine Opfer auf kommenden Samstag nach London zitiert. Wahrscheinlich geht es um eine neue Teufelei.»
Sylvia schüttelte den Kopf. «Ich verstehe nichts mehr. Warum nach London? Sicher ins Old Hampshire Hotel.»
Jetzt staunte Kellenberger. «Ja, genau. Sitzungszimmer Leonardo. Aber wie kommen Sie auf dieses Hotel?»
«Er war vor drei Wochen in London an der Abdankung eines Schulfreundes. Wenigstens hat er mir das erzählt. Da wohnte er auch im ‹Old Hampshire›.» Nach kurzem Zögern fuhr sie fort: «Ich durfte nicht mit, weil es zu teuer war.»
Sie schwieg, und ihr Schweigen senkte sich übers Konferenzzimmer wie eine schwere Decke. Als die Stille fast greifbar wurde, räusperte sich der Anwalt und sagte: «Sie machen eine schwierige Zeit durch. Ich bewundere Ihren Mut. Aber ich hoffe auch, dass Sie Diskretion bewahren werden. Im Gegenzug sichere ich Ihnen zu, Sie über die weitere Entwicklung auf dem Laufenden zu halten, soweit ich dazu in der Lage bin.»
Er wunderte sich, dass sie nicht wissen wollte, ob er selber auch zu den Opfern zähle und ob er auch nach London reise. Dann, nach einer Pause, sagte er unvermittelt:
«Ihnen ist der Mann davongelaufen, Frau Matter. Mich hat meine Frau rausgeworfen. Ich habe eine Dummheit begangen, die ich seither bereue. Jetzt sind wir geschieden, und ich zahle für meine Dummheit.»
Sylvia Matter musterte ihn aufmerksam. Kellenberger erwiderte den Blick, er sah ihren goldenen Anhänger, ihre glitzernden Augen, ihr anliegendes weißes Kleid, aber er sah durch sie hindurch, ganz als habe er nur zu sich selber gesprochen. Sie fragte:
«Warum erzählen Sie mir das, Herr Kellenberger? Um dem einen Unglück ein zweites beizufügen?»
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