Musikhaus und Hausmusik
So wurde das Geschäft von Generation zu Generation weitergereicht, und man könnte denken, Erika Hug als Repräsentantin der sechsten Generation sei geradlinig und zielgerichtet ins Direktionsbüro der Hug ag marschiert. Ist sie aber nicht.
«In meiner Kindheit war das Geschäft weit, weit weg. Mein Vater hat Unternehmen und Familie strikt getrennt, zu Hause durfte man nicht vom Geschäft reden.» Sein Gegengewicht zum Musikhaus ist die Hausmusik. Abend für Abend spielt der Vater auf dem Flügel und beschert damit seiner Tochter eine der frühesten Erinnerungen: «Ich lag in meinem Bettchen, und von unten herauf drang Klaviermusik, erfüllte mich und alles, ich schwebte in Musik. So bin ich eingeschlafen. Und als ich ein bisschen grösser war, durfte ich im Musiksalon zuhören. Mein Vater spielte gut, so gut, dass mich stümperhaftes Geklimper bis heute ärgert. Er war ein sehr verschlossener, schüchterner Mensch, aber über die Musik konnte man sich ihm nähern. Ich lag am liebsten bäuchlings unter dem Flügel, ganz Ohr, und beobachtete dabei, wie seine Füsse die Pedale bearbeiteten. Wissen Sie, es klingt wahnsinnig dort unten!» Noch ist kein Konzerthaus auf die Idee gekommen, Tickets für diesen besten aller Plätze anzubieten.
Adolf Hug jun., Erika Hugs Vater, der Patron der fünften Generation, war der einzige Berufsmusiker in der Hug-Dynastie. Er studierte am Leipziger Konservatorium, schloss als Klavierpädagoge ab und fasste eine Pianistenkarriere ins Auge. Es sollte anders kommen, sein Vater brauchte ihn im Geschäft, zunächst in der Filiale in Leipzig. Kurz vor dem Krieg kehrte Adolf Hug nach Zürich zurück. 1943, nach dem Tod seines Vaters, trat er dessen Nachfolge an. «Zur Leitung des Musikhauses berufen, trennte er sich schweren Herzens von den geliebten Plänen und ging den Weg der Pflicht», heisst es in der Chronik zum 150-jährigen Jubiläum der Firma. Hinter diesem lakonischen Satz verbirgt sich ein Drama. Wäre Hans noch dagewesen, der um zehn Jahre ältere Bruder: Hätte nicht er die Leitung des Hauses übernehmen können? Wäre der Jüngere dann frei gewesen, seiner Neigung zu folgen? Aber der Bruder war verschollen, seit vielen Jahren schon, nie wurde auch nur eine Spur von ihm gefunden. Geredet wird nicht viel darüber in der Familie.
Neben dem Weg der Pflicht bleibt die Kür: das abendliche Klavierspiel allein oder im Duo mit der Geigerin Mrs. Murphy, einer irischen Diplomatengattin. Wenn Adolf Hugs Musiker-Freunde zu Besuch kommen, blüht er auf. Unter ihnen sind die Komponisten und Dirigenten Othmar Schoeck und Volkmar Andreae und der Pianist Kurt Herrmann, mit dem er einst in Leipzig Konzerte gab.
Erika lernt bei Mrs. Murphy Geige spielen, da ist sie etwa sechs Jahre alt. Es ist nicht ihr Wunschinstrument, aber sie wird nicht gefragt. «So war das damals. Ich fand es schwierig, ein Geknorze, krrrr, krrrr, krrrr, bis es endlich ein bisschen klang. Und mein Musiker-Vater sass daneben und musste sich das anhören.» Während der gesamten Schulzeit, Woche für Woche, geht sie in die Geigenstunde. Wenn sie daran denkt, fallen ihr zuerst die Rückenschmerzen ein: «Jeden Abend nach der Schule, nach den Hausaufgaben auch noch üben – uff! Ich war hochaufgeschossen und dünn und bekam beim Stehen sofort Rückenweh.» Und in der nächsten Lektion sagt die unerbittliche Mrs. Murphy mit sanfter Stimme: «Also ich täte jetzt ein bisschen mehr üben, sonst kommst du gar nicht weiter.» Klavier hätte ihr wahrscheinlich eher entsprochen, meint Erika Hug rückblickend.
Aber die Geige beschert ihr auch glückliche Erlebnisse. «Manchmal haben wir zusammengespielt, der Vater und ich, und wenn ich eine Vortragsübung hatte, begleitete er mich, das fand ich wunderschön. Über die Musik kam ich ihm am nächsten. Und später konnte ich im Orchester des Konservatoriums mitspielen. Wie das klang, wenn man mittendrin sass, das war toll.» Nach der Schulzeit sinkt das Instrument allerdings in einen Dornröschenschlaf, aus dem es bis heute nicht richtig aufgewacht ist. Die Mutter teilt das Interesse an der Musik und am Musikerleben nicht, wenngleich sich die Eltern im Musikhaus kennen gelernt haben. Der Junior-Chef erblickte einst das bildhübsche Mädchen im Sekretariat des hauseigenen Musikverlags. Susanna Elsa Kaufmann war die Tochter aus dem schicken Blumenladen gleich um die Ecke. Erika Hug charakterisiert ihre Mutter als «sehr narzisstisch, ichbezogen, das hat mein Leben und das meiner Schwester nicht gerade einfach gemacht. Aber sie war auch lebensfroh und trug gern schöne Kleider. Sie war immer eine schöne Frau und auf ihre Art selbständig bis ins hohe Alter.» Die Schwester ist fünfeinhalb Jahre jünger, «da ist man am Anfang Kindermädchen, notgedrungen».
Die Familie wohnt in einer Villa in Fluntern am Zürichberg. Die Mutter besorgt den Haushalt mit der Hilfe einer Putzfrau und einer Hausangestellten, die vor allem in der Küche wirkt. «Meine Mutter war keine Köchin, ich behaupte, dass sie nie in ihrem Leben gekocht hat.» Erika Hug erzählt das mit Vergnügen, denn sie selbst kocht leidenschaftlich gern. «Na ja, wenn es nicht täglich sein muss.»
Das Beste am Haus ist der Garten. «Als ich klein war, kurz nach dem Krieg, hatten wir noch Gemüse, Obstbäume und Beeren, das war ganz toll. Mit der Zeit sind die Beete verschwunden, stattdessen wurde überall langweiliger Rasen angelegt.» Sie hegt und pflegt ihr eigenes Blumenbeet. Im Spätherbst steckt sie Tulpenzwiebeln in den Boden, beobachtet im Frühling fasziniert die ersten Blattspitzen und wartet darauf, wie die dicken, grünen Knospen allmählich Farbe annahmen. Gelb oder rot? Manchmal schneidet sie Sträusse, Tulpen im Frühling, Gladiolen im Sommer, und verkauft sie ihrer Mutter.
Hin und wieder kommt Erikas Gotte auf Besuch, Vaters Schwester Eva, die mit dem Schriftsteller und Maler Albert Welti verheiratet ist und in einem Vorort von Genf lebt. Sie bringt den Hauch einer ganz andern, aufregenden Welt mit, in der Künstler, Autorinnen, Wissenschaftler vorkommen. «Eine aussergewöhnliche Frau, sehr hübsch. Sie soll vor ihrem Vater nach Genf geflohen sein, das habe ich nie so genau erfahren, auch darüber sprach man nicht. Jedenfalls hat sie in Genf Biologie studiert und doktoriert. Ich ging sehr gern zu ihnen in die Ferien, sie hatten ein kleines Haus mit Bildern an den Wänden, sehr französisch, ganz anders als bei uns. Meine Gotte besass ein ganzes Zimmer voller biologischer Präparate, kleine Skelette und getrocknete Tiere, Fische und Käfer, Vogeleier, das fand ich total faszinierend. Wenn ich von den Ferien heimkam, legte ich selber Sammlungen an. Meine Gotte schenkte mir Kartonschachteln, die in kleine Fächer unterteilt waren, darin bewahrte ich Steine, Seepferdchen, Schneckenhäuser auf, alles Mögliche. Ich besass im Estrich ein ganzes Lager von solchen Schachteln.»
Erika Hug, etwa vierjährig.
«Es hat gebrannt in der Nacht»
Unvergessen jener Morgen – 1957, Erika besucht die Sekundarschule –, als sie zum Frühstück herunterkommt und weder Vater noch Mutter vorfindet, die Betten leer. Das hat es noch nie gegeben, was ist los? In der Schule erfährt sie, dass es in der Nacht gebrannt habe, «ich glaube, bei euch», sagt der Lehrer. Erika weiss von nichts. Verstört eilt sie am Mittag nach Hause. Die Mutter ist wieder da. Ja, das Hauptgeschäft am Limmatquai habe gebrannt, die oberen Stockwerke der Münsterburg. Nein, es sei niemand verletzt worden.
Sie steht vor der Brandstätte, blickt an der Fassade empor zu den russgeschwärzten Fensterhöhlen – «das ist kein schöner Anblick» – und stellt sich mit Schaudern vor, wie der Hauswart mit der Leiter aus seiner Wohnung im obersten Stockwerk des brennenden Hauses gerettet werden musste, sehr dramatisch, es hätte bös enden können. Das Haus ist noch abgesperrt, es sei einsturzgefährdet, des vielen Löschwassers wegen, sagt der Vater. Später erfährt man die Brandursache, eine Leinöl-Mischung, von einer Putzfrau in einem Schrank zurückgelassen, hat sich selbst entzündet. Die Statik erweist sich als stabil, aber nach und nach zeigt sich das Ausmass des Schadens. In den oberen Stockwerken befinden sich der Verlag und die Musikaliensammlung, es sind wertvolle Originale verloren gegangen. Erschwerend kommt hinzu, dass das Haus unlängst umgebaut wurde und die Versicherung noch nicht dem neuen Wert angepasst war.
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