«Es ist unmöglich, die Verletzte da hinunterzutragen», wandte der andere ein. Da gibt’s eine Felswand mit Seilen.»
«Wer sind wir denn?», brüllte der Offizier. «Packt an. Ein paar sollen schon vor, eine Seilbahn einrichten. Ihr seid doch Bergsteiger, oder nicht?» Dann begann er, mit seinem Beil einen Busch wegzuhacken, der ihm den Weg zu verstellen schien. Sein Kollege zog das Seil ab, schoss es auf und warf es einer Gruppe von Kletterern vor die Füsse. «Dai, dai, bewegt euch!»
«Was sollen wir?» Tom griff sich das Seil.
«Den Weg hinab, irgendwo hat es einen Fels, dort sollt ihr eine Seilbahn einrichten», übersetzte Felix.
«Und wie geht das?»
«Der Feuerwehrmann wird es dir zeigen.»
Tom warf sich das Seil über die Schulter, hängte sich seinen Rucksack an. Hinter dem Feuerwehrmann schritt er davon, ein paar Leute folgten. Andere blieben unschlüssig stehen.
«Warum ziehen wir sie nicht die Wand hoch und tragen sie nach Orco?»
«Was ist mit dem Helikopter? Hat der keine Seilwinde?»
Stimmen in mehreren Sprachen redeten durcheinander, machten Vorschläge. «Übersetz das! Frag den Meister.» Jemand stiess Felix in die Seite. «Du kannst doch Italienisch.»
Er fragte den Offizier, ob man die Verletzte nicht besser nach Orco bringe.
«Niente Orco. Wir tragen sie hinab.»
Noch immer schwebte der Hubschrauber über dem Tal, strahlte mit Scheinwerfern den Abhang an. Sein Licht blendete, die Baumstämme warfen bizarre Schatten auf den bleichen Fels. Die Menschen waren nur noch als schwarze Schemen zu erkennen, wenn sie ins Licht traten, sonst blieben sie von der Nacht verschluckt.
Endlich traf der Mann mit der Transportschale ein, eine Art Boot aus Kunststoff. Die Sanitäter zogen die Teile der Schaufelbahre auseinander, setzten sie auf beiden Seiten der Verletzten an, schoben sie vorsichtig unter ihren Körper. Als sie die Bahre anhoben, stöhnte Andrea leise. Sie fühlte wohl, dass die Rettung begann. Felix hob die Kleider auf, die sie unter ihren Körper geschoben hatten. Er polsterte die Schale mit zwei Jacken, mit den andern Kleidern deckte er Andrea zu. Die Sanitäter schnallten sie fest. Vier Kletterer hoben die Transportschale an und setzten sich vorsichtig in Bewegung. Im Rhythmus ihrer Schritte schwankte sie hin und her wie ein Boot bei leichtem Seegang.
Der Hubschrauber löschte seine Scheinwerfer, drehte ab und flog talauswärts davon. Stille und Dunkelheit senkten sich über den Abhang. Nur noch das Schleifen der Schritte auf dem steinigen Pfad war zu hören, das Kratzen von Ästen an den Kleidern der Männer, die die Bahre trugen, und die Rufe, mit denen sie sich verständigten, die Axthiebe der Feuerwehrleute, die den Weg freihackten, das Wimmern einer Ambulanz oder eines Polizeifahrzeugs in der Tiefe. Felix suchte in der Dunkelheit seinen Rucksack, sammelte das Klettermaterial ein, das noch herumlag. Er stopfte Andreas Schuhe und Expressschlingen in ihren Rucksack, schnallte ihn auf seinen. Dann folgte er dem Lichtschein einer Stirnlampe talwärts.
9
Ein Wort. Es kehrt wieder. Immer wieder: Seilbahn. Stimmen, Rufe, Schreie, eine Kakophonie. Was soll das? Jemand will eine Seilbahn bauen, man will mich hinübersenden, übers Tal und über den Fluss. Ein Pferd ist ertrunken im Wildwasser, das zwischen uns und dem Leben tobt. Wer wagt sich durch den reissenden Strom. Daniel? War er dabei, damals in Patagonien?
Daniel baut die Seilbahn mit linker Hand, er war ein Freak, ein starker Kletterer, stark ist er noch immer, und wir haben gestritten. Worüber eigentlich? Er verlässt mich, immer wieder. Muss zum Notfall, muss zur Sitzung, muss zur Konferenz, muss einen Artikel schreiben fürs New England Journal of Medicine . Er jettet nach San Diego, zu einer Tagung von Traumatologen oder zu seiner Geliebten. Kein Wort darüber, wir schweigen. Meine Geliebte ist die Medizin, sagt er. Und ich, was bin ich? Ist es die Scham oder die Eifersucht, die uns entfremdet? Zur Kletterwoche wollte er mich begleiten, eine Woche im Süden, eine Woche für uns. Und dann? Dann war da etwas. Etwas Unausgesprochenes, Verschwiegenes. Lügen? Ausflüchte? Finale.
Nun bauen andere die Seilbahn. Gute Kumpels, meine Freunde. Hammerschläge auf Haken, Klirren von Karabinern, Rufe. Hinüber! Flussabwärts finden wir das tote Pferd, halb im Sand vergraben. Wir weinen. Andrea fährt sich mit der Hand über die Augen. Sieht über sich Lichtstrahlen durch die Nacht fingern, bleicher Fels, ein tropfender Überhang. Ihr Kopf liegt tief, hingebettet hat man sie, auf abschüssigen Grund. Vergessen. Verlassen. Ein kalter Tropfen schlägt ihr ins Gesicht, sie schreit auf, doch niemand hört sie. Schatten hasten vorüber, Zweige knacken, Steine kollern, Atem hechelt dicht neben ihr, jemand spuckt aus, einer pisst ins Gebüsch. Sie vernimmt die Geräusche wie durch Kopfhörer. Bewegt die Lippen, versucht zu sprechen. Nach Orco, bringt mich nach Orco, dort steht mein Wagen. Der gute alte Cherokee. Geschenk meines Vaters. Aber noch immer keine Stimme. Und wieder das Wort: Seilbahn. Mit einem Ruck hebt man sie an, etwas schleift über Schotter, sie schwebt, hoch über dem wilden Wasser des Flusses. Drüben, die Rettung. Und das tote Pferd.
10
Der Pfad endete in einer Nische unter einer überhängenden Wand. Felix sah, dass es schwierig würde, eine Seilbahn um die Felsstufe einzurichten. An einem Felshaken war ein ausgefranstes Hanfseil befestigt, mit Reepschnurstücken aus Kunstfaser verknotet und verstärkt. Es führte als Geländer aus der Nische um einen Felspfeiler herum, zwanzig Meter, die man hangelnd überwinden musste. Für die Füsse waren Tritte in den Fels gemeisselt. Der Pfeiler sprang weit vor gegen das Tal hin, es war kaum möglich, ein Seil zu spannen und zu verankern. Niemand hatte Felshaken oder eine Bohrmaschine dabei. Die Träger hatten die Bahre abgestellt, ein Dutzend Leute standen in der Dunkelheit herum, redeten durcheinander, rauchten und riefen Vorschläge in die Runde, wie man die Schale mit der Verletzten um den Felspfeiler herumtransportieren könnte. Abseilen zum nächsten Band, mit Flaschenzug heraufziehen durch den felsigen und mit Gestrüpp bewachsenen Abhang. Der Offizier hieb mit der stumpfen Seite seines Beils auf den rostigen Felshaken ein, als ob er damit sicherer würde.
«Lass das», sagte Felix, «du lockerst ihn nur.» Er hatte Erfahrung mit dem alten Material. Der Mann gab einen grunzenden Laut von sich, hörte mit dem sinnlosen Hämmern auf.
Tom schlug vor, ein zweites Geländerseil zu legen, an Bäumen festgebunden und nur leicht gespannt. Drei oder vier starke Männer sollten sich mit ihren Klettergürteln dranhängen, die Schale auf ihre Arme nehmen und sie dann miteinander Schritt um Schritt um den Felspfeiler herummanövrieren. Die Bahre würde mit zusätzlichen Seilen gesichert.
Felix übersetzte, der Offizier zupfte seinen Schnurrbart, liess sich schliesslich überzeugen, einen Versuch zu wagen. Per Funk sprach er sich mit seinen Leuten im Tal ab. Während Tom und ein paar Männer die Seile spannten, begann auf der andern Seite des Felsens ein Stromaggregat zu knattern, ein Scheinwerfer leuchtete auf.
«Gefechtsfeldbeleuchtung», sagte jemand. «Wie im Krieg.»
Ein deutscher Kletterer beugte sich über Andrea, die reglos in der Transportschale lag, fühlte ihr den Puls. Er tippte Felix auf die Schulter. «Ich bin Arzt. Sie müsste dringend ein Schmerzmittel bekommen. Und eine Infusion, damit ihr Kreislauf durchhält. Sag das dem Kommandeur.»
Felix informierte den Offizier, der befahl einem Sanitäter, per Funk eine Spritze anzufordern. «Puntura», vernahm Felix. «No», rief er, «Infusione.» Der Offizier riss dem Sanitäter das Funkgerät aus der Hand, schrie selber ins Mikrofon. Der Deutsche musste nochmals erklären, was er wünschte, Felix übersetzte. Während der Konfusion fiel ihm ein Kinderlied ein, das Anna ihrer Tochter gesungen hatte. Ecco il dottore che fa la puntura, mamma ho paura, mamma ho paura … Die einfache Melodie und die Worte wiederholten sich unablässig in seinem Kopf, mit Wehmut dachte er an seine Tochter, mit der er kaum noch Kontakt hatte. Gelegentlich eine E-Mail, zu Neujahr oder wenn sie Geld brauchte.
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