Foto Marco Volken
Emil Zopfi, geboren 1943, studierte nach einer Berufslehre Elektrotechnik und arbeitete als Computerfachmann und Erwachsenenbildner für Informatik und Sprache. Autor von Romanen, Hörspielen, Kinder-und Jugendbüchern sowie Bergmonografien. Er lebt heute als Schriftsteller in Zürich. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem King Albert Mountain Award und dem Glarner Kulturpreis. Im Limmat Verlag sind seit 1977 zahlreiche Bücher erschienen, u.a. die Andrea-Stamm-Trilogie «Steinschlag», «Spurlos» und «Finale».
«Emil Zopfi ist DER deutschsprachige Bergschriftsteller der Gegenwart. Er erreicht mit seinen Werken nicht nur Bergsteiger, sondern auch das breite Publikum.» King Albert Mountain Award
Emil Zopfi
Spurlos
Roman
I CLIMB EVERY MOUNTAIN
I CROSS EVERY SEA
TO LAY IN YOUR ARMS FOR ETERNITY
BONNIE TYLER
1
Sie trug seine Asche auf den Berg. Es war Frühling, noch lag Schnee in den Mulden der Alp. Der Himmel blass. Stille.
Sie hörte nur ihren Atem und ihre Schritte in den nassen Stauden der Alpenrosen und später, während sie über die Geröllhalden anstieg, das Knirschen des Schotters unter den Sohlen. Musik, tausendmal gehört, der Klang des Bergs.
Ihr Vater war gestorben, als sie in Patagonien am Cerro Torre kletterte. Per Funk war die Meldung ins Camp gekommen, sie war sogleich abgereist. Obwohl es zu spät war für alles. Er hatte sich nach dem Mittagessen hingelegt wie jeden Tag, war auf dem Sofa eingeschlafen. Sanft hinübergeschlummert, ohne Abschied und mit einem Lächeln im Gesicht, wie es seine Art war. Am gleichen Tag hatten sie am Cerro Torre ihren höchsten Punkt erreicht, zweihundert Meter unter dem Gipfel, dann war ein Sturm aufgezogen.
Auf dem Weg zur Hohen Platte, der unter den Wänden von Sila und Plattenburg nach Westen führt, fasste Andrea spontan den Entschluss, direkt durch die Westwand zu klettern. Es war noch kalt, aber das machte ihr nichts aus, in Patagonien hatte sie im Sturm härteste Seillängen geführt. Sie stieg an, über steilen Hartschnee einem Rinnsal folgend. Eine alte Route, die niemand mehr ging, brüchiger Fels, Schluchten, Bänder, Risse. Sie stieg schnell, Geröll löste sich unter ihren Schuhen, kollerte in die Tiefe. Das war Musik, Hard Rock. Die Route hatte sie längst verloren, sie kletterte in der Falllinie höher und höher, einer Reihe von Kaminen folgend, manchmal fast im Innern des Bergs, der sie umfing wie ein Mutterschoss.
Dann die Sonne, ein kurzer Blockgrat, eine Senke und dahinter der Gipfel mit dem schiefen Holzkreuz. Eine rostige Konservenbüchse steckte zwischen den Felsbrocken des Steinmanns, darin ein Notizbuch. Nur wenige Leute besuchten diesen Gipfel. Einsam und schwer zugänglich, passte er zu ihrem Vater. Sie ass einen Getreideriegel, trank Wasser, die Urne hatte sie neben sich auf die Steine gelegt. Ein Zylinder aus gebranntem Ton, sehr leicht. Das war von dem schweren Mann übrig geblieben. Sie hatte sich vorgenommen, die Urne vom Gipfel in den Abgrund zu schleudern, sie würde zerschellen, seine Asche in Klüften zerstäuben, die nie ein Mensch betrat. Sie hob die Urne auf, legte sie wieder hin. Sie brachte es nicht übers Herz, das Gefäss in die Tiefe zu schmettern. Irgendwie müsste ich Abschied nehmen vom alten Herrn, dachte sie, aber sie wusste nicht wie. Augen schliessen, sich nochmals an ihn erinnern, an das Schöne und Gute, und alles andere vergessen? Sie legte den Kopf auf die Knie und weinte leise.
Dann stieg sie über den Blockgrat gegen Süden ab, fand einen Spalt unter einem Felsabsatz, schob die Urne hinein und verschloss die Öffnung mit grossen Steinen.
«Auf Wiedersehen Robert», sagte sie, dann kletterte sie über Felsstufen hinab zu einem Ringhaken, zog das Seil ein und glitt hinab ins Joch. Es war Nachmittag, sie war keinem Menschen begegnet.
2
Ein Stein fiel, hoch über ihm in der Wand. Magnus erschrak, duckte sich hinter einem Block. Seine Knie zitterten. Vorsichtig hob er den Kopf, zog den Feldstecher aus dem Futteral, stützte die Ellbogen auf und suchte den Berg ab. Eine Gestalt glitt wie eine Spinne am seidenen Faden durch die Felswand in die Tiefe. Metall klirrte, als sie sich anklinkte, am Seil zog. Es löste sich, kringelte über Absätze und Stufen, Steine rieselten herab. Dann hüpfte die Spinne wieder weg vom Fels, schwebte in die Tiefe, landete in einer Scharte des Grates, der von der Wand gegen das Joch zog. Eine Frau in gelber Windjacke. Leicht setzte sie über die Zacken und Türme des Grates hinweg. Ein Tanz über dem Abgrund. Magnus stockte der Atem. Sonnenlicht fiel unvermittelt durch ein Wolkenloch, die gelbe Jacke leuchtete auf. Dann verschwand sie hinter einer Kante. Magnus suchte mit dem Feldstecher den Grat ab, glaubte, sie sei gestürzt. Da schwang sie sich über die Kante, direkt über ihm. Er hörte ihren Atem, das Klirren der Karabinerhaken an ihrem Gürtel.
Er zog den Kopf ein, schob den Feldstecher ins Futteral. Gelegentlich hatte er Bergsteiger beobachtet, wenn er durch die Gegend streifte. Keiner bewegte sich so leicht und so sicher wie die kleine Frau. Wie eine Artistin im Zirkus, den er mit seiner Mutter besucht hat, unten in Pratt. Mit einem Sprung setzte sie über eine Scharte, balancierte mit ausgebreiteten Armen auf der Gratschneide, hüpfte über Zacken hinweg, als spiele sie Himmel und Hölle.
Dann stand sie im Joch, wenige Schritte von seinem Felsblock entfernt. Magnus hielt den Atem an. Hörte, wie sie ihren Rucksack ablegte, einen Schluck aus einer Flasche nahm, ihr Kletterzeug einpackte, das Seil rollte. Er drückte sich an den feuchten Fels, der nach Meer roch, Fisch und Salz und Seetang. Er hatte gelesen, dass die Berge vor Millionen Jahren aus einem Meer wuchsen. Er hatte Steine gefunden, auf denen sich die Schalen von Muscheln abzeichneten. Den schönsten, geformt wie eine Schnecke, trug er im Hosensack.
Mit der Zunge leckte Magnus den feuchten Fels, schmeckte das Salz des Meeres, das er noch nie gesehen hatte. Nur in seinem Kopf, in seinen Träumen existierte es.
Die Frau hatte ihn nicht entdeckt. Er atmete tief, verliess sein Versteck. Vom Joch aus sah er sie weit unten, wo der Weg über die Felsstufe mit dem Drahtseil führte. Wie eine Gämse eilte sie zu Tal. Mit dem Feldstecher schaute er ihr nach, bis sie den Weg verliess, über ein Schneefeld abrutschte und verschwand.
3
Im Dorf parkte Andrea vor der «Alpenrose». Wolken waren aufgezogen, frühe Dämmerung lag über den Blockhäusern und der Kapelle mit dem frei stehenden Glockenturm. Aus Gewohnheit hatte sie angehalten, wie immer nach einer Bergtour. Doch heute gab es keinen Kaffee, das Restaurant war geschlossen. Anita, die Wirtin, lag im Spital.
Andrea blieb im Jeep sitzen, kein Mensch liess sich blicken, das Dorf schien ausgestorben. Dann bemerkte sie das Schild an der Tür. Sie stieg aus. Zu verkaufen stand darauf, dazu eine Telefonnummer. Anita würde also nicht mehr zurückkehren. Andrea hatte sie besucht, bevor sie nach Patagonien verreist war. Sie war zuversichtlich gewesen, hatte von einer Therapie auf natürlicher Basis gesprochen, einer Kur mit Mistelpräparaten.
Andrea lehnte sich an den Zaun am Rand des Parkplatzes, betrachtete das grosse Haus. Es musste sehr alt sein. In den Kellergewölben hatte Anita eine Kunstgalerie eingerichtet. Die Grundmauern aus Bruchstein waren meterdick, darauf stand Fachwerk, mit Schindeln verkleidet, die sich im Laufe der Jahrzehnte silbergrau verfärbt hatten. Der Dachstuhl war eingesunken.
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