Als er im Kanton Glarus lebte, erhielt Emil Zopfi ab und zu einen kleinen Geldbetrag von der Zopfi-Stiftung in Schwanden. Ein Dr. Samuel Zopfy (1804–1890) hatte verfügt, dass ab dem hundertsten Jahr nach seinem Tod alle erwachsenen «männlichen und weiblichen Glieder des Zopfi-Geschlechtes» im Kanton jährlich in den Genuss der Zinsen des Stiftungsvermögens kommen sollten.
Bei Recherchen zu einem anderen Buch stösst Zopfi auf eine interessante Geschichte: Im Oktober 1862 wird Dr. Zopfy mit den berühmtesten Ärzten Europas nach La Spezia ans Krankenlager des italienischen Freiheitshelden Giuseppe Garibaldi gerufen, um über dessen Schussverletzung zu beraten. Wie kam der Hausarzt, Chirurg, Zahnarzt und Homöopath aus dem Glarnerland, der sich auch als Weinbauer, Fabrikant und Erfinder betätigte, zu diesen Ehren?
Mit Hilfe vieler Quellen und seiner Imagination erzählt Emil Zopfi die Geschichte eines armen Bäckerssohns, der es mit Bildung zu Wohlstand und einem Renommee als Arzt und Homöopath brachte, sich im Alter aber zunehmend verkannt fühlte, vor allem in seiner Heimat.
Emil Zopfi, geboren 1943, studierte nach einer Berufslehre Elektrotechnik und arbeitete als Computerfachmann und Erwachsenenbildner für Informatik und Sprache. 1977 erschien im Limmat Verlag sein erster Roman «Jede Minute kostet 33 Franken». Seither hat er zahlreiche Romane, Sachbücher, Hörspiele, Kinder- und Jugendbücher verfasst. Er lebt heute als Schriftsteller in Zürich. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Schweizer Jugendbuchpreis, dem Kulturpreis des Kantons Glarus und dem Albert Mountain Award. Foto Marco Volken
www.zopfi.ch
Emil Zopfi
Garibaldis Fuss
Aus dem Leben des Homöopathen Samuel Zopfy 1804–1890
Limmat Verlag
Zürich
Garibaldi fu ferito
fu ferito ad una gamba
Garibaldi che comanda
che comanda il battaglion
Am 29. Oktober 1862 versammelten sich die berühmtesten Ärzte Europas in der ligurischen Hafenstadt La Spezia am Lager des Generals und Freiheitshelden Giuseppe Garibaldi. Eine Gewehrkugel war ihm zwei Monate zuvor bei einem Gefecht auf dem Aspromonte in Kalabrien in den rechten Fuss gedrungen. Der «Grande Consulto», wie man die Konferenz der Ärzte nannte, sollte entscheiden, ob eine Amputation notwendig sei oder ob es andere Möglichkeiten der Heilung gebe. Unter den siebzehn medizinischen Kapazitäten, die den menschlich und politisch folgenschweren Entscheid zu fällen hatten, war auch ein Schweizer. Der Hausarzt, Chirurg, Zahnarzt und Homöopath Dr. Samuel Zopfy aus dem Dorf Schwanden im Kanton Glarus.
Ich erinnere mich, wie mich mein Vater auf dem Friedhof der reformierten Kirche von Schwanden vor ein Grabmal aus schwarzem Marmor führt und erklärt, hier liege der berühmte Doktor Zopfy begraben, der Begründer der Zopfi-Stiftung. Wenn ich erwachsen sei und im Glarnerland wohne, würde ich von seiner Stiftung jedes Jahr Geld erhalten. Zopfy hatte verfügt, dass ab dem hundertsten Jahr nach seinem Tod alle im Kanton lebenden erwachsenen «männlichen und weiblichen Glieder des Zopfi-Geschlechtes» alljährlich in den Genuss der Ausschüttung aus dem durch Zinsen gemehrten Stiftungsvermögen kommen würden. «Zur künftigen ökonomischen Besserstellung des Zopfi-Geschlechtes, das mit irdischen Glücksgütern spärlich ausgestattet», heisst es in der Stiftungsurkunde.
Während der Jahre, in denen ich mit meiner Familie im Kanton Glarus wohnte, wurde mir einige Male ein Betrag von etwa vierzig Franken überwiesen. Einmal nahm ich an einer Jahresversammlung der Stiftung teil und schrieb darüber einen Bericht in einer Zeitung. Zwei Dutzend Zopfis hatten sich in der Gaststube der «Sonne» eingefunden, Frauen waren nicht dabei. Das Gasthaus befindet sich neben dem Rothaus, das einst dem Doktor Zopfy gehört und in dem er ab den 1830er-Jahren seine erste medizinische Praxis geführt hatte. Protokoll und Jahresrechnung wurden abgenommen, der Verstorbenen gedacht, über Geldanlagen diskutiert, der Vorstand bestätigt. Vereinsgeschäfte. Anschliessend lud die Stiftung zu einem Imbiss mit Sauerkraut und Speck ein. Man trank Wein und Bier, unterhielt sich, rauchte. Bei Kaffee und Schokoladentorte erzählte mir ein älterer Zopfi, dass vor Jahren ein Onkel meines Vaters, Polizist in Schwanden, den Antrag gestellt hatte, auf den traditionellen Imbiss zu verzichten. Heisst es doch in der Stiftungsurkunde: «Das Kapital darf niemals, unter keinerlei Titel noch Vorwand, verteilt oder geschmälert werden.» Die männlichen «Glieder des Zopfi-Geschlechtes» lehnten den Antrag ab, speisten weiter an den Versammlungen, denen der «Landjäger Zopfi» von da an aus Protest fernblieb.
Doch wer war dieser kuriose Doktor, der laut Nachrufen auch mit Grundstücken handelte, seinen eigenen Wein kelterte, eine Seidenspinnerei und -weberei betrieb, die eines Nachts abbrannte, der eigentlich Ingenieur habe werden wollen, nebenbei Erfindungen machte und an einer Flugmaschine bastelte? Über seine sechzigjährigen Erfahrungen als Mediziner und Homöopath gab er im hohen Alter ein 670 Seiten umfassendes Werk im Selbstverlag heraus, Zopfys «Heilkunde».
An der Wand in der Gaststube der «Sonne» hing ein gemaltes Porträt des Stifters in einem Goldrahmen. Es zeigt einen nachdenklich dreinblickenden alten Mann mit Stirnfalten, grossen Ohren und einer vorspringenden Nase, wie sie nicht selten ist bei uns Zopfi-Männern. Die leicht nach vorn geneigte Haltung wirkt etwas resigniert und müde, melancholisch beinahe. Lachfältchen, die von den blauen Augen ausstrahlen, lassen jedoch vermuten, dass der Herr Doktor auch eine heitere Seite besass, vielleicht sogar Humor. Das kahle Haupt umgibt ein Kranz schütterer Haare. Der weisse Bart unter den schmalen Lippen, der in einer dunklen Jacke verschwindet, ist dem Maler schlecht gelungen, er sieht aus wie angeklebt. Zopfy wirkt auf diesem Gemälde wie ein strenger, aber im Grunde gütiger Sankt Nikolaus.
Durch einen Zufall beim Recherchieren einer ganz anderen Geschichte bin ich darauf gestossen, dass Zopfy zu den Teilnehmern des «Grande Consulto» am Krankenlager des verwundeten Generals Garibaldi gehört hatte. Ich sammelte weitere Informationen, und allmählich begann ich mir ein Bild dieses eigenartigen und eigenwilligen Angehörigen unseres Geschlechtes zu machen, der seinen Namen mit einem vornehmen Y schmückte. Die wenigen und zum Teil widersprüchlichen Fakten, die von ihm überliefert sind, bilden eine Art homöopathischer Grundsubstanz meiner Erzählung.
Ich stelle mir vor: ein Tag in Schwanden im Herbst 1890, Zopfys letztem Jahr. Zum Beispiel Samstag, der 27. September, es ist Kirchweih, die traditionelle «Schwander Chilbi».
Sein Mund ist trocken, als er erwacht. Die Zunge fühlt sich rau und dick an. Mit der rechten Hand tastet er über die Decke, aber da ist nichts. Das Bett neben ihm ist leer. Er wischt sich Tränen aus den Augen, starrt in die Dunkelheit. Seine Lippen bewegen sich. «Anna Maria.» Fahl schimmert das Viereck des Fensters an der Südseite der Kammer. Anna Maria ist tot, dämmert ihm allmählich. Tot, im Himmel oder wo immer. All seine Arznei und Erfahrung hatte ihr nicht helfen können. Wozu denn alles, das Studium, die Praxis, die lebenslange Erfahrung, wenn man seinen Nächsten, seinen Liebsten in ihrem Leiden nicht beistehen kann? Ihren Schmerz nicht einmal lindern, ihre Not nicht besänftigen. Wozu, wozu?
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