Emil Robert Kraft - Eine Nordpolfahrt

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Robert Kraft

Eine Nordpolfahrt Aus dem Reiche der Phantasie 9

Auszug aus der erklärenden Einleitung zum ersten Bändchen

Richard ist bis zum zwölften Jahre ein kräftiger, lebensfroher Knabe gewesen, als er durch ein Unglück gelähmt wird.

Am Abend seines vierzehnten Geburtstages sitzt der sieche Knabe allein in der Stube, traurig und freudlos, kein Ziel mehr im Leben kennend. Da erscheint ihm eine Fee. Sie nennt sich die Phantasie, will ihm ihr Geburtstagsgeschenk bringen und sagt ungefähr Folgendes:

In Richards Schlafzimmer befindet sich eine Kammerthür. Jede Nacht wird er erwachen (das heißt nur scheinbar), er soll aufstehen, jene Thür öffnen, und er wird sich stets dort befinden, wohin versetzt zu sein er sich gewünscht hat. Er kann sich also wünschen, was er will, er kann allein sein oder mit Freunden, er kann auch den Gang seiner Abenteuer ungefähr im voraus bestimmen; hat er aber einmal die Schwelle der Thür überschritten, dann ist an dem Laufe der Erlebnisse nichts mehr zu ändern. Alles soll folgerichtig geschehen, der Traum nichts an Wirklichkeit einbüßen. –

Die Erscheinung verschwindet, Richard erwacht aus dem Halbschlummer. Aber die gütige Fee hält Wort, und so findet der arme Knabe im Traume einen Ersatz für sein unglückliches Leben.

Jede Erzählung schildert nun eins seiner wunderbaren Erlebnisse, wie sie ihm die Phantasie eingiebt.

Der Nordlandsdampfer

Alle Rechte vorbehalten.

Wieder einmal hatte Richard von der gütigen Traumfee verlangt, ihn etwas recht Merkwürdiges erleben zu lassen. Und siehe da, noch war er kaum eingeschlafen, da ging auch bereits sein Wunsch in Erfüllung. Der Direktor des Bremer Norddeutschen Lloyd teilte nämlich dem plötzlich in einen Seemann von gesetztem Alter mit rotem Gesichte und noch röterer Nase verwandelten Richard mit, daß er zum Kapitän eines Nordlandsdampfers bestimmt wäre, der von einer Künstlergesellschaft gemietet worden sei. Er wisse doch, meinte der Direktor, wen er an Bord habe, daß es ganz bevorzugte Passagiere, darunter die ersten Sterne des Hoftheaters, seien, und daß man ihm als erfahrenem Nordlandsfahrer nur deshalb die Führung dieses Dampfers anvertraut habe, weil man ihn wegen seiner persönlichen Vorzüge ganz besonders für diesen Kapitänsposten geeignet halte.

Richard dankte durch eine Verbeugung für die ihm zuteil gewordene Ehre.

Enttäuscht über das, was ihm die Phantasie da vorspiegelte, war er nicht im geringsten.

Er war ja in diesem Augenblicke thatsächlich davon überzeugt, ein alter Seemann zu sein, der sich am Kap Horn schon ein Dutzend Mal den Wind um die Nase hatte pfeifen lassen und auch bereits ein paar Polarexpeditionen mitgemacht habe, bis er schließlich in die Dienste des Bremer Lloyd getreten war. Allerdings früher, als er noch Schiffsjunge und dann später Leicht- und Vollmatrose gewesen war, da hatten – offen gestanden – derartige Abenteuer, wie er sie voraussichtlich jetzt erleben würde, für ihn noch mehr Reiz gehabt. Dieses jugendliche, für allerhand wunderbare Erlebnisse so empfängliche Alter hatte er eigentlich schon längst hinter sich; jetzt war ihm ein steifes Glas Grog beinahe lieber.

Mit jener Künstlergesellschaft, die in die nördlichen Breiten wollte, hatte es aber folgende Bewandtnis.

Einzig und allein die Laune der schönen Primadonna des Hoftheaters hatte genügt, um das lustige Völkchen zur Ausführung einer so extravaganten Idee zusammenzuführen. Die junge Dame nämlich, in die sich ein in der Residenz lebender vielfacher Millionär, ein kleiner, gutmütiger Mann mit etwas krummen, auswattierten Beinen und einem hohlen, anscheinend mit Stroh ausgepolsterten Kopfe so sterblich verliebt hatte, daß er sie sogar zu heiraten beabsichtigte, hatte es sich, nicht zufrieden mit den ihr verehrten Perlen und Diamanten und einem glänzenden Heim, in dem sie dieses kostbare Geschmeide bergen konnte, in Ermangelung anderer Wünsche ihres übersättigten Herzens partout in dem Kopf gesetzt, auf einem eigenen oder doch gemieteten Dampfer eine der damals üblichen Nordlandsreisen anzutreten.

Da diese nun in der Gesellschaft des langweiligen und simpelen Verehrers zu eintönig geworden wäre, so wurden, da die Ferien vor der Thür standen, sämtliche Mitglieder des Hoftheaters dazu eingeladen, und so war bald eine bunte Gesellschaft zusammengekommen: der Baß, der Baß-Buffo, der erste und zweite Tenor; dann der Held, der sentimentale Liebhaber, der nichtswürdige Intrigant, der im gewöhnlichen Leben immer finstere Komiker und die anderen, die dazu gehörten; dann die weiblichen Mitglieder des Theaters, von der Naiven bis zur Heldenmutter, außerdem noch ein paar Balletteusen. Auch einige andere Künstler schlossen sich an, ein Maler, ein Bildhauer, ein nervöser Virtuos und ein halbverhungerter Dichter.

Als Proviant an Bord genommen wurde, staunten die Matrosen, dabei mit der Zunge schnalzend, besonders die ungeheuren Mengen des Champagners und der Schnäpse an, die vorhanden waren. Nachdem nun die aus achtundzwanzig Köpfen bestehende Gesellschaft über die Laufbrücke geschritten war, begrüßte sie Kapitän Richard nochmals, dann donnerte er durch das Sprachrohr seine Kommandos – und der Dampfer stach in See.

Ja, es waren wirklich ganz besondere Passagiere! Es versprach eine lustige Fahrt zu werden. Selbst die Seekrankheit verlief bei den Leutchen ganz anders als sonst bei gewöhnlichen Sterblichen; sogar in der Todesqual mußte noch deklamiert werden, und wenn der ewig durstige Baß das zwanzigste Glas Punsch bestellte, so war er anscheinend kein Mensch mehr, sondern der zürnende Jupiter selbst und donnerte, daß die Schiffsplanken erzitterten.

Die Seekrankheit war überstanden; man amüsierte sich zusammen und allein ausgezeichnet. Der Dichter tanzte, wenn er satt war, und die erste Tänzerin dichtete in gräßlichen Versen die Fjords an; der Maler spielte Klavier, und der Virtuose malte; die Naive suchte der Primadonna den Millionär abspenstig zu machen, und die Heldenmutter schäkerte mit einem Schiffsjungen; der Komiker und der Heldentenor spielten Tag und Nacht in einer engen Kabine Sechsundsechzig um ihre Gage, soweit diese noch nicht versetzt war.

Kapitän Richard gestand sich, noch nie eine solche famose Seereise gemacht und noch nie ein solch vergnügtes Völkchen um sich gehabt zu haben.

Eine traurige Rolle spielte nur der Millionär. Er hatte bei der Seekrankheit seine geraden Beine verloren und konnte das Ersatzpaar nicht finden. Aus Verzweiflung angelte er den ganzen Tag, fing aber niemals etwas, bis einmal doch, als er fortgewesen war und wieder zurückkam, etwas Großes angebissen halte. Als er nämlich den Fisch mit der Rute an Deck schwang, waren es seine Wattenpolster für die Beine, die am Angelhaken hingen!

Nach dem Nordpol

Das Nordkap war von ferne bewundert, andeklamiert, angesungen, angedichtet, angetanzt und angetrunken worden – eine Landung war wegen der hohen See nicht möglich gewesen – es ging nun auf die Bäreninsel zu, die man umfuhr; dann sollte die Rückreise angetreten werden.

„Mein bester Kapitän, nun noch nach Spitzbergen,“ flehte die Primadonna, „nur die ewig eisgekrönten Gipfel von Spitzbergen möchte ich einmal sehen, dann will ich sterben.“

„Ne, Bauline, ja nich, awer was fällt Dich nur inn!“ stotterte ihr Bräutigam ängstlich.

Trotzdem wurde der Kurs nach Spitzbergen genommen. Das wüste Eisgebirge, das auch im heißesten Juli nicht auftauen wollte, kam in Sicht.

„Mein liebster, bester Kapitän,“ flechte da die Primadonna wieder, „nun bloß noch um Spitzbergen herum, und ich habe keine Sehnsucht mehr auf Erden.“

„Da verlangen Sie wirklich zu viel von mir, meine Gnädige. Wir sind hier an der Westküste, die im Sommer, so wie jetzt, meistenteils eisfrei ist; die Nord- und Ostküste dagegen starrt auch noch um diese Jahreszeit meist in Eis. Ich kann das Risiko nicht auf mich nehmen.“

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