Nach der Brücke über den Po begann sich der Nebel aufzulösen, trieb in grauen Fetzen über die Ebene. Da und dort ein Traktor auf dem Feld, ein einsames Gehöft, ein Hochspannungsmast. Daniel überholte den Lastzug, blieb auf der linken Spur. Wählte Andreas Nummer, wie schon unzählige Male seit seiner Abfahrt. Das Pfeifsignal, die synthetische Stimme: «Sie sind verbunden mit der Mailbox von …» Andreas Nummer folgte. «Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht.»
Er hinterliess einen Kraftausdruck. Warum meldete sie sich nicht? Was war los? Während des Nachmittags hatte ihn von ihrer Nummer eine eigenartige sms erreicht. Es war nicht ihre Art zu schreiben. Er kannte ihre Kurzmitteilungen zu gut, ihre kleinen Orthografiefehler und geheimen Zeichen, ihre verhaltenen Gefühle. Hatte sie jemals das Wort «Liebe» verwendet, hatte er es? Er konnte sich nicht erinnern.
Andrea gestürzt. Das ist der Preis der Liebe. Il Silenzio .
Für diese paar Worte fand er keine Erklärung. Andrea stürzte nie, niemals. Nicht in Finale in einer Kletterwoche mit Anfängern. Das war nicht wahr, das durfte nicht wahr sein. Finale war Routine für sie. Wessen Preis sollte das sein? Welche Liebe? Gab es Nebenbuhler? Die Kumpels, mit denen sie im Winter in Patagonien herumgeklettert war? Sie sprachen nie darüber, stillschweigend waren sie übereingekommen, dass diese Dinge tabu seien. Die zwei Jahre in Kalifornien hatte er sein Leben gelebt, sie das ihre. Er war kein Engel und sie keine Klosterschülerin. Beide hatten sie wilde Zeiten durchlebt, waren gereift, hatten ihren Weg gefunden. Egal, was immer sie an der Südspitze Südamerikas trieb in den Wochen, während Schneestürme tobten und sie mit ihren Freunden auf die wenigen Sonnentage für die Kletterei wartete. Er war doch nicht etwa eifersüchtig? Il Silenzio, das Schweigen? War sie der Mafia in die Hände geraten, Omertà? Und mit der nächsten sms kam die Lösegeldforderung? Preis der Liebe? Blödsinn! Sie war gestürzt, hatte einen Knöchel gebrochen oder die Hand verstaucht.
Die Frauenstimme aus dem GPS holte ihn aus den Gedanken. Rechts abzweigen auf die A 26 Richtung Savona und Ventimiglia. Wenig später kündete eine Tafel einen Autogrill an. Er brauchte einen Kaffee, setzte den Blinker. An der Bar der Raststätte standen Leute herum, der Espresso schmeckte nach Teer. Trotzdem bestellte er einen zweiten, schüttete viel Zucker hinein, schob sich eine fettige, mit Marmelade gefüllte Brioche in den Mund. Seit er nicht mehr rauchte, war er süchtig nach Gebäck und allem Süssen, hatte ein paar Pfunde zugelegt. Schwer war er geworden, fand kaum mehr Zeit fürs Bergsteigen oder einen andern Sport. Dafür hatte sich Andrea, so schien ihm, umso hartnäckiger in ihre Kletterprojekte verbissen, plante Expeditionen, wilde Erstbesteigungen. Vielleicht gab es wirklich einen andern. Etwa den Typen, mit dem sie schon dreimal eine neue Route am Cerro Torre versucht hatte. Sie war ziemlich schweigsam zurückgekehrt von der letzten Expedition.
Eine halbe Stunde nach der seltsamen SMS hatte Daniel eine Vertretung organisiert, Silke Braun, eine tüchtige und karrierebewusste Ärztin aus Dresden, die wusste, dass er wahrscheinlich bald der neue Chef war im Haus. Seiner Sekretärin hatte er zwischen Tür und Angel zugerufen: «Ich muss dringend weg.»
«Professor Smits wollte dich morgen sprechen, wegen der Kommissionssitzung am Montag.»
Daniel tat, als habe er nicht gehört, obwohl die Sitzung entscheidend war für seine Berufung zum Chefarzt. Der Klinikchef hatte ihn als Nachfolger vorgeschlagen. Das war der eine Grund, weshalb er aus San Diego zurückgekehrt war in die Provinz. Der andere war Andrea. Ein Dilemma, denn als Chef der Klinik würde er noch weniger Zeit für sie haben, ihre Beziehung würde noch mehr strapaziert. Wegen dem Assessment hatte er die Kletterwoche abgesagt. Er müsse sich vorbereiten, doch das war ein Vorwand gewesen. Andrea hatte wohl etwas geahnt, war wütend und traurig abgereist, hatte sich nicht mehr gemeldet. Und nun? Nach der SMS hatte er keine Sekunde gezögert. Er musste fahren, er musste wissen, warum sie nicht mehr antwortete und was die ominöse Nachricht bedeutete, die jemand in ihr Mobiltelefon getippt hatte.
Zwischen Gestellen, die überladen waren mit Weinflaschen, Olivenöl, Parmaschinken, Parmesan und Teigwaren, suchte er den Weg zur Kasse und zum Ausgang. Es war schon dunkel, Nebelbänke schoben sich über den Kamm des Apennin. Neben seinem Saab stand ein Typ mit fettigen Haaren, wollte ihm eine gefälschte Rolex für fünfzig Euro andrehen. Er lehnte ab. Der Mann trat näher, er hatte schlechte Zähne und sein Atem roch nach Tabak. Daniel schaute ihm ins graue Gesicht, packte ihn hart an der Schulter und schob ihn zur Seite. Der Mann knurrte einen Fluch und verzog sich.
Als Daniel auf die Autobahn einspurte, begann es zu regnen.
8
Weitere Helfer waren eingetroffen, Kletterer aus andern Gebieten, die von dem Unfall gehört hatten, und freiwillige Retter, die aus dem Tal heraufgestiegen waren. Sie lehnten an Bäumen, hockten auf dem Boden, unterhielten sich. Zigaretten glommen auf. Felix hörte Italienisch, Deutsch und holpriges Englisch, wenn sich die verschiedenen Nationalitäten untereinander verständigten. Alle warteten, dass etwas geschehe, dass sie Hand anlegen, sich nützlich machen konnten. Er sass auf seinem Rucksack, musste immer wieder die gleiche Frage beantworten: «Wie ist es passiert?»
«Ich weiss es nicht.» Er deutete auf das Seil, das in der Wand hing.
Ein Kletterer zog am Seil, doch es blieb verklemmt. «Da ist noch ein Knoten drin.»
«Sie hat sich zum Umfädeln losgeseilt, ohne sich zu sichern, und ist dabei ausgerutscht.»
«Bestimmt nicht, sie war Bergführerin.»
«Oder der Typ da hat sie fallen lassen, hat sie losgebunden und das Seil wieder nachgezogen.»
«Vielleicht ist der Stand ausgebrochen.»
Einer wollte hinaufklettern und nachsehen, doch die andern hielten ihn zurück. Es war schon zu dunkel, die Felsen nass. «Ein Absturz genügt für heute.»
Zwei Sanitäter brachten eine Schaufelbahre, die man in zwei Teile zerlegen konnte und damit die Verletzte anheben, ohne ihre Wirbelsäule zu gefährden. Für den Transport gehöre eine Schale aus Kunststoff dazu, die sei noch unterwegs, erklärten sie. Sie trugen Helme mit Stirnlampen, leuchteten Andrea ins Gesicht. Der Blutstreifen aus ihrem Mundwinkel war eingetrocknet, sie kniff ihre Augen zusammen, als sie das Licht blendete. Die Sanitäter hockten auf den Boden, rissen eine Dose Bier auf, reichten sie hin und her.
Wenig später rollte unvermittelt das Dröhnen eines Helikopters über die Wand. Er war aus einem andern Tal aufgestiegen, schwebte dicht über dem Grat, schaltete Scheinwerfer ein. Die knorrigen Stämme von Zwergeichen ragten ins grelle Licht. Steine, Laub und Föhrennadeln prasselten herab. Die Seitentür wurde aufgeschoben, zwei Gestalten sprangen heraus.
«Was soll das? Was macht ihr dort oben?», rief einer der jungen Italiener hinauf.
Der Hubschrauber entfernte sich von der Wand, leuchtete den Fels an. Ein Seil kringelte herab. Ein Mann seilte sich ab, der zweite folgte. An einer Föhre machten sie Zwischenstand, zogen das Seil ab, warfen es wieder aus. Die Enden klatschten zwischen den Wartenden auf den Boden. «Bravo!», rief jemand. «Viva i pompieri! Viva l’Italia!»
Ein Feuerwehrmann glitt am Seil herab. Er trug eine Uniformjacke mit Gradabzeichen, einen Kletterhelm, am Gürtel pendelten Karabinerhaken aus Stahl und ein Beil. Ein Offizier offenbar, mit gepflegtem Schnauz und energischem Gesichtsausdruck. Er leuchtete mit seiner Stirnlampe in die Runde, trat kurz zur Verletzten. «Warum liegt sie noch hier? Wo ist die Bahre?»
Ein Sanitäter erklärte ihm, dass die Transportschale zur Bahre noch nicht eingetroffen sei. Der Mann, der sie herauftragen sollte, hatte offenbar den Weg verfehlt. Der Offizier stiess wüste Flüche aus, telefonierte. «Was stehst du herum? Geh suchen!», fuhr er den Sanitäter an.
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